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Achtsame Politik beginnt beim Einzelnen

hanohiki/ shutterstock.com
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Ein Standpunkt von Peter Döge

Politik wird oft als getrennt von den Menschen gedacht. Der Soziologe Professor Peter Döge sieht in diesem fragmentierenden Denken eine Ursachen unachtsamer Politik. Mit Achtsamkeit, so seine These, kann eine Gesellschaft von Menschen entstehen, die Politik ganzheitlich denkt und entsprechend handelt.

 

„Die Ursache der Ordnung liegt also im eignen Selbst“ (Liezi)

Jedes Nachdenken über den Zusammenhang von Achtsamkeit und Politik muss mit einem Nachdenken über unsere Vorstellungen von Politik und mit unseren Vorstellungen über den Zusammenhang von Staat, Gesellschaft und Individuum beginnen. Denn – wie schon der Buddha, gewissermaßen der „Erfinder“ der Achtsamkeitspraxis, sagte: “Wir sind, was wir denken. Alles, was wir sind, entsteht mit unseren Gedanken. Mit unseren Gedanken erschaffen wir die Welt“.

Die landläufige Vorstellung denkt Politik als eine Sphäre getrennt von der Gesellschaft. Politik wird dabei meist gleichgesetzt mit staatlichem Handeln, wobei auch Staat und Gesellschaft als getrennt gedacht werden. Eine solche fragmentierende Perspektive, die das Sein in viele kleine Departemente aufteilt, versteht schließlich auch das politisch handelnde Individuum als abgeschlossene Einheit, als abgeschlossenes Ich.

Diese Sichtweise ist zunächst plausibel, denn ich erfahre mich in jeder Handlung als ein Ich, aber ein abgeschlossenes Ich existiert trotzdem nicht – da sind sich mittlerweile Achtsamkeits- und Hirnforschung einig. Jedes Ich ist – in den Worten Thich Nhat Hanhs – zugleich „Interbeing“: Es ist auf vielfältige Weise mit seiner bio-physikalischen und sozialen Umwelt verwoben. Ein Trennung zwischen „mir“ und „denen da“ ist nur eine Kopfgeburt.

In diesem Sinne ist auch die Trennung von Staat und Gesellschaft eine Illusion. Wo kommen denn die vielen Berufspolitikerinnen und -pPolitiker her, wenn nicht aus der Gesellschaft? Hatten sie nicht auch Eltern, die dieser Gesellschaft angehören und die ihnen Werte vermittelt haben? Haben sie nicht auch Schulen besucht? Haben nicht letztendlich die Parteimitglieder dafür gesorgt, dass einige von ihnen Spitzenpositionen einnehmen können und unter Umständen Kanzlerkandidatin werden? Woher kommen denn die Politiker, wenn nicht aus der Gesellschaft, aus unserer Mitte?

Und haben wir sie nicht letztendlich auch gewählt? Ist die landläufige Kritik an den BerufspolitikerInnen somit nicht eine Kritik an uns selbst? Hat also der Politikwissenschaftler Murray Edelman recht, wenn er sagt„… dass sich Mensch und Politik ineinander spiegeln“?

Wenn ja, dann wird klar: Wollen wir mehr achtsame Politikerinnen, d.h. mehr Politiker, die bewusst sind in ihrem Sein, ihrem Denken und Tun, liegt es an uns allen, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass solche entstehen können – in Familie, Schule, Universität, Parteien. Wer hindert uns daran, Achtsamkeitspraxis in einem rechts- oder politikwissenschaftlichen Seminar an der Universität oder in Sozialkunde an der Schule zu unterrichten mit dem Ziel, den Schülerinnen und Schülern sowie den Studierenden einen Zugang zum Ganz-Sein, zum Hier-Sein, zum bewussten Sein zu verschaffen?

Soziale Strukturen sind Resultat vieler individueller Handlungen

Die fragmentierende Sichtweise auf Politik und Gesellschaft hat aber noch eine andere Seite – und diese macht sie für so viele Menschen attraktiv: Sie legt klar fest, wer die „Sündenböcke“ sind, wer verantwortlich ist für den schlechten Zustand der Welt. Es sind nämlich „die da oben“ und nicht „wir hier unten“.

Keiner muss sich folglich fragen, warum staatliche Politik plötzlich mit der Bankenrettung beschäftigt war und Milliarden von Euro in marode Banken pumpen musste. Oder warum sich Politik mit Diesel-Skandalen und Fahrverboten beschäftigen muss. Oder was sein Anteil daran ist, dass sich plötzlich viele Menschen von Afrika aus auf den Weg nach Europa machen.

Aber sind es nicht letztendlich die Individuen, die durch ihr unachtsames Alltagshandeln an den vielen Orten des sozialen Raums der staatlichen Politik die Lösung ganz bestimmter Probleme aufbürden? Entstand die Finanzkrise nicht aus einer unersättlichen Gier, an der auf die eine oder andere Weise viele partizipierten – etwa mit einer vermeintlich profitablen Geldanlage bei einer geld-gierigen Bank?

Auch das Schuldendesaster in Griechenland entwickelte sich nicht von heute auf morgen, sondern als ein Prozess, an dem viele in ihrer Geld-Sucht mitmachten und entsprechend die Bilanzen fälschten. Ebenso ist der Plastikberg in den Meeren nicht vom Himmel gefallen, auch er ist Produkt individuellen, unachtsamen Handelns von vielen Menschen an vielen Orten des politischen Raums? Aber niemand wird gezwungen, duzende von Kilogramm Plastik zu konsumieren, jeder hat beim Einkaufen von Nahrung oder Kleidung eine Wahl.

Gleiches gilt doch wohl auch für den Klimawandel und die Notwendigkeit, den CO2-Ausstoß zu reduzieren – auch in diesem Fall gibt es keinen Zwang, sich eine ressourcenverschwendende Großlimousine oder viele stromfressende Elektrogeräte zu kaufen.

Soziologisch gesehen sind soziale Strukturen immer das Resultat vieler aufeinander bezogener individueller Handlungen – sogenannter Interaktionen. Und je nachdem, woran wir unser Handeln auf den unterschiedlichen Ebenen des politischen Raums ausrichten, werden sich die sozialen Strukturen und politischen Institutionen gestalten: Orientieren wir uns an den – wie es Buddha nennt – „drei Giften“, die ich zeitgemäß als Geldsucht, Geringschätzigkeit und Getrenntheitsdenken bezeichnen möchte, oder an den „drei Schätzen“ Laotses – Fürsorglichkeit, Genügsamkeit und Bescheidenheit?

Weisen Eigennutz pflegen

Aus all dem ergibt sich: Wenn wir mehr Achtsamkeit in der Politik wollen, müssen wir alle beginnen, achtsam zu handeln – wohlgemerkt alle! Wir alle sind Gesellschaft und wir alle sind Staat, und wir alle sind Politik. Das Private ist auch heute noch politisch!

Gute, achtsame Politik, beginnt immer beim Einzelnen, sie beginnt an den vielen Orten des politischen Raums – eine Erkenntnis, die so unterschiedliche Denktraditionen wie der Buddhismus, der Daoismus oder die Systemtheorie, so unterschiedliche Denker wie Konfuzius, Theoreau und Gandhi teilen. Letzten Endes läuft es – um noch einmal Thich Nhat Hanh sprechen zu lassen – darauf hinaus: „Die grundlegende Verhaltensregel heißt, achtsam für das zu sein, was wir tun und was wir sind – in jeder Minute. Jede andere Regel ist nachrangig“.

Aber warum sollen wir überhaupt achtsam sein in unserem politischen Handeln? Warum sollen wir jetzt und hier mit Achtsamkeitspraxis beginnen? Welchen Grund kann es dafür geben? Ganz einfach: Weil wir eigennützige Wesen sind und mit unserem Handeln auf unser Wohlbefinden zielen sollten. Bedauerlicherweise wird Eigennutz in der politikphilosophischen Diskussion ebenso wie Selbstliebe gleichgesetzt mit Egoismus – ist aber keinesfalls dasselbe.

Der Egoisten denkt sich nicht in Beziehungen und pflegt sein scheinbar abgeschlossenes Ego. Ein eigennütziger Mensch, wie ich ihn verstehe, sieht sich in Verbundenheit mit den menschlichen und nicht-menschlichen Wesen, in einem umfassenden Netzwerk von Interdependenzen. Er weiß, dass er in diesem Interdependenzgeflecht ein gutes Leben nur dann leben kann, wenn alle anderen auch gut leben können.

Der Dalai Lama drückt dies so aus: Er weiß, dass sein „…Glück unauflöslich mit dem Glück anderer zusammenhängt“. Und heißt es nicht schon im Neuen Testament: Liebe Deinen nächsten wie dich selbst? Für eine solche Haltung klugen Eigennutzes hat der der us-amerikanische Philosoph Archie Bahm in den 1980ern den Begriff „weiser Eigennutz“ geprägt.

Achtsamkeitspraxis wiederum ist ein wichtiger Baustein auf dem Weg zum weisen Eigennutz. Denn Achtsamkeitspraxis ermöglicht uns nicht nur eine bewusste Sicht der Dinge, sondern – so Jon Kabat-Zinn – auch und vor allem das „unablässige Gewahrwerden der Verbundenheit aller Phänomene“. Ein Gewahrwerden, in dem der Einzelne sich in einem Ganzen sieht und vor allem fühlt – ein Gewahrwerden, das mir sagt, dass in diesem verwobenen Ganzen jede Handlung letztendlich auf mich zurückwirkt.

Achtsamkeitspraxis kann uns somit zu unserem wahren Selbst führen, zu wahrer Selbst-Liebe im besten Sinn. Wenn dieses Selbst geklärt ist, kann es auch achtsame Politik geben – oder wie es prägnant im Liezi, einer daoistischen Schrift, formuliert wird: „Ich habe noch nie gehört, dass, wenn das eigne Selbst in Ordnung ist, der Staat in Verwirrung käme, und habe auch noch nie gehört, dass, wenn das eigne Selbst in Verwirrung ist, der Staat sich ordnen ließe. Die Ursache der Ordnung liegt also im eignen Selbst …“. Als weise eigennützige Wesen, sollten wir uns umgehend daran machen, mittels Achtsamkeitspraxis diese Ordnung in uns zu schaffen!

Peter Döge ist Professor für Politikwissenschaft und Soziologie an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen, daneben freiberuflich tätig als Trainer, Coach und Organisationsberater.

Zahlreiche Publikationen zu den Themen Technik-Staat-Geschlecht, Politik-Kultur-Natur sowie Ethik-Politik-Religiosität, zuletzt: Achtsamkeit und Politik. Wie Darwin, ein Schmetterling und Laotse dazu beitragen können, Politik besser zu verstehen, gute Politik zu machen und ein gutes Leben zu leben, Münster: MV Wissenschaft, 2016 (zweite Ausgabe Norderstedt, 2017)

 

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