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Achtsamer Umgang mit Online-Formaten an Schulen

symchych/ shutterstock.com
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Interview mit der Pädagogin Vera Kaltwasser

Online-Formate im Schulunterricht sind wichtig, so Vera Kaltwasser, Pädagogin, Achtsamkeitsexpertin und Dozentin im AVE Institut. Sie ersetzen aber nicht die körperliche Präsenz im Klassenzimmer und die direkte Interaktion und Beziehung zwischen Lehrern und Schülern.

 

Das Interview führte Michaela Doepke

Frau Kaltwasser, Sie haben als Pionierin das Thema Achtsamkeit an Schulen eingeführt. Wie geht es Ihnen im Umgang mit Online-Medien in Zeiten von Corona?

Kaltwasser: Ich nehme als Pädagogin derzeit an vielen Online-Konferenzen teil und verwende für meine Seminare Online-Dienste. Das ist einerseits eine Chance. Man verliert sich nicht aus den Augen. Aber man kann sich nicht in die Augen schauen. Das heißt, man fühlt sich danach irgendwie erschöpft, weil der Körper signalisiert, da fehlt etwas. Und man selbst merkt das natürlich auch, wenn man ein gutes Körpergefühl hat.

Wenn Sie den Umgang mit Online-Medien in zwei Sätzen zusammenfassen müssten: Was nimmt er, was schenkt er?

Kaltwasser: Wenn man Menschen aus dem realen Leben kennt und sich dann online verbinden kann, ist das wunderbar. Auf diese Weise springt das Körpergedächtnis direkt an. Dann freut man sich, sich zu sehen.

Auf der anderen Seite nimmt uns diese technische Möglichkeit sehr viel, nämlich die vielen Facetten, die wir in der täglichen Begegnung erfahren: ein Lächeln, ein kleines Nicken, eine Umarmung bei der Begrüßung. Wenn Sie die vielen kleinen Fotos und Köpfe auf dem Bildschirm sehen, dann erleben Sie nicht diese Beziehung wie im direkten Kontakt, und das erschöpft den Körper. Denn man sucht etwas und bekommt es nicht.

Wie könnte Achtsamkeit helfen beim Online-Unterricht?

Kaltwasser: Das Potenzial der Achtsamkeit ist mein Herzensthema. Wir lernen, ganz bewusst im Hier und Jetzt zu sein und der unwillkürlichen Reaktivität nicht ausgeliefert zu sein. Wenn ein Kind zum Beispiel gelernt hat, die eigenen Ängste bewusst wahrzunehmen und sich zu beruhigen, dann hat es jetzt in diesen Zeiten eine gute Grundlage, um seinen Stress zu bewältigen.

Es gibt schon viele Lehrkräfte, die in ihrem Unterricht praktizieren, auf den Körper zu achten, in die Stille zu gehen und den Kindern zu vermitteln, wie sie sich selbst motivieren können. Auf dieser Grundlage kreieren wir ein gutes Fundament dafür, bewusst mit Online-Zeit umzugehen. Wir können dann spüren, wann wir dem Sog der Medien ausgeliefert sind. Dann können wir bewusst gegensteuern.

Also das wäre eine Möglichkeit, Achtsamkeit auch in den Online-Unterricht zu integrieren?

Kaltwasser: Ja, es ist eine gute Zeit dafür. Aber die Basis für Achtsamkeit kann nur im echten Leben gelegt werden, in der realen Interaktion mit den Lehrerinnen und den Schülern zusammen. Nur das bereitet im Körpergedächtnis die Grundvoraussetzung, sich später vor dem Bildschirm zu Hause an die Achtsamkeitspraxis zu erinnern.

Achtsamkeit schult die Eigenverantwortung

Was machen Online-Formate mit der Aufmerksamkeit und Präsenz? Wie kann Achtsamkeit hier einen Beitrag leisten?

Kaltwasser: Die Macher von Online-Formaten sind sehr geschickt. Sie produzieren schnelle Video-Clips, schnelle Schnitte. Und das Kind sitzt fasziniert mit offenem Mund vor dem Bildschirm. Es bleibt sicher auch etwas hängen und es ist gut, dass Kinder auch motiviert werden.

Aber Online-Formate verlaufen oft nach dem Schema Reiz-Reaktion (klatscht in die Hände): Es kommt was, ich schaue, ich bin ganz da draußen. Und wir und die Kinder brauchen diese Spanne, selber zu sagen: Moment, eben merke ich, mir wird es zu viel. Ich klinke mich aus. Das muss man erst lernen.

Unser Gehirn hat nur eine begrenzte Kapazität. Unsere Aufmerksamkeit ist das Eintrittstor für ausgeklügelte Werbestrategien. Unser Organismus reagiert blitzschnell – für uns unbewusst – auf Reize. Gerade Kinder und Jugendliche werden so auf Trab gehalten, ohne dass sie es merken.

Aber ich warne davor, dass die Langsamkeit aus dem Blick kommt. Lernen ist nicht, etwas zu konsumieren, sondern das Kind sollte selbst seinen Teil dazu beitragen und Verständnis für die Gesetzmäßigkeiten des Organismus und für Steuerungsmöglichkeiten entwickeln.

Wenn ein Schüler Achtsamkeit praktiziert, merkt er, wenn er etwas noch nicht verstanden hat. Er macht bewusst Pause, schreibt sich vielleicht etwas auf. Wenn das von den Anleitenden unterstützt wird, dann kann es gut gehen. Aber niemals ohne die Basis der echten zwischenmenschlichen Begegnung. Deshalb ist das „Blended Learning“ – ein Ineinander von Präsenz- und Online-Lernen – pädagogisch sinnvoll.

Wie steht es mit den Themen Empathie und Mitgefühl? Können Lehrer sich online einfühlen?

Kaltwasser: Wenn eine Lehrerin eine gute Beziehung zu den Schülern hat und die Schüler miteinander, dann kann der Funke der gegenseitigen Wertschätzung auch online überspringen. Aber wenn schon in der realen Welt keine richtige Zuwendung da ist und man sich nur auf den Stoff konzentriert, dann fällt es sehr schwer, den Kontakt online aufrecht zu erhalten.

Wir können online nur auf das zurückgreifen, was wir im realen Leben gelernt haben. Dann kann ich empathisch sein, dann freue ich mich, dass ich die Person auf dem Bildschirm sehe. Dann schaue ich hin und merke vielleicht auch am Gesichtsausdruck, wie es dem Schüler geht oder ob er traurig ist.

Gut ist, analoges und digitales Lernen zu verzahnen, z.B. die Schüler zu motivieren, in die Natur zu gehen. Sie können entdecken, wo der stillste Ort ist, sie können ein Foto von der Landschaft oder einer schönen Pflanze machen und dann die Eindrücke online teilen. Lehrer könnten Challenges anbieten: Worauf achten wir heute? Achtsam essen, achtsam kochen. Das heißt in der realen Welt etwas tun und in der Online-Welt teilen.

Prosoziales Verhalten durch gemeinsames Tun

Was sind aus Ihrer Sicht die Vorzüge von Präsenzunterricht? Körperpräsenz und Körpersprache sind ja ein wichtiges Medium der Begegnung.

Kaltwasser: Diese vielen Facetten einer Begegnung sind auch ein Lernfeld für die Schülerinnen und Schüler. Im Präsenzunterricht im Klassenzimmer entwickeln wir Achtsamkeit, z. B. beim achtsamen Dialog, bei dem die Kinder lernen, sich genau zuzuhören und den Impuls zurückzustellen, immer gleich selbst etwas sagen zu wollen. Das sind so ganz feine Begegnungen, bei denen die Schüler ihre Wahrnehmung des Anderen immer mehr verfeinern können.

Eine Lehrerin kann, wenn sie in einen wertschätzenden Kontakt geht, eine wunderbare Atmosphäre im Klassenraum schaffen. Wir wissen von Studien zur Resonanz und aus der Lernforschung, dass Lernen erfahrungs- und körperorientiert ist. Kinder müssen sich im Raum bewegen und abschätzen können: Ist das weit weg, oder nah? Kann ich da hochkrabbeln? Kann ich jetzt jemanden ansprechen, oder warte ich erstmal ab?

Das sind die kleinen Aspekte im Umgang mit den Mitmenschen und Dingen, die man lernen muss. Und die kann man nicht online lernen, weil ich im virtuellen Raum vieles nicht abschätzen kann. Das heißt, es geht auch um die Gehirnentwicklung. Also eine Generation, die nur online aufwächst, das wäre eine so verarmte Welt. Ich möchte mir das bitte nicht vorstellen.

Viele Parameter im zwischenmenschlichen Erleben lassen sich nicht messen. Aber es gibt derzeit viel Forschung über Embodiment, die Angleichung der Herzvariabilität und Kohärenz in einer Gruppe. Mögen Sie dazu etwas sagen?

Kaltwasser: Beim Unterrichten von Qigong erlebe ich immer wieder, dass durch die Übungen ein schönes Gruppengefühl von Verbundenheit entsteht. Was passiert, wenn Menschen Dinge synchron machen? Verändert sich dann etwas im Einzelnen? Es gibt inzwischen viele Studien, die erforschen, was sich verändert, wenn Menschen in der Gruppe gemeinsam praktizieren. Es gibt Studien dazu, dass Prosozialität und Empathie gestiegen sind.

Die Forschung über das Lernen in einer Gruppe und die messbaren Resonanzphänomene ist für Pädagoginnen und Pädagogen sehr interessant. In meinem Rahmencurriculum AISCHU sind Einheiten des Achtsamen Bewegens aus dem Qigong enthalten, die Schülerinnen und Schüler beruhigen und motivieren.

Bewusst durch die Online-Welt navigieren

Welche langfristigen Auswirkungen und Chancen sehen Sie durch die intensive Einbeziehung von Online-Formaten im Schulbereich?

Kaltwasser: Wir dürfen diese Entwicklung nicht verteufeln. Wir müssen einfach sehen: Das sind wunderbare Geschenke. Es ist sehr gut, wenn Kinder und Jugendliche kurze Zusammenhänge online motivierend z. B. mit Grafiken erklärt bekommen. Gerade in der Psychoedukation und der Erklärung wie unser Gehirn funktioniert, können Forscher per Video zu Wort kommen. Das sind wunderbare Möglichkeiten. Die sollen wir sehen und nutzen.

Aber wir sollen sie auf der Basis bewusster Präsenz nutzen, damit wir selbst entscheiden können, wie wir uns verhalten. Das ist auch eine Frage des verantwortlichen Umgangs mit den Informationen z. B. im Umgang mit Fake-News. Kinder und Jugendliche sollten befähigt werden Subjekte ihres Bildungsprozesses zu werden. Es ist wichtig, dass wir den Kindern eine gesunde Kritikfähigkeit vermitteln, so dass sie wirklich entscheiden können: Was will ich? Will ich eigentlich schon morgens früh auf das Handy schauen? Oder spüre ich, dass mir das gar nicht gut tut.

Wir lieben es so, Dinge zusammen zu erleben, gemeinsam zu kochen, zu wandern und Fußball spielen. Fragen Sie mal die Jungen. Die möchten keine Geisterspiele. Die möchten in echt zuschauen und in echt spielen. In dieser Hinsicht habe ich einfach Vertrauen, dass wir ein gutes Maß finden können. Wichtig ist die Haltung der Achtsamkeit, alles mit Bewusstsein zu tun. Uns bewusst zu sein. Dann können wir auch mal nachmittags Netflix schauen und danach entscheiden, jetzt gehe ich raus. Bewusst durch die Online-Welt navigieren, das würde ich den Schülern wünschen, den Lehrern und uns allen.

Die Pädagogin Vera Kaltwasser sprach an einem Online-Abend des AVE Instituts am 24. April 2020 zum Thema “Umgang mit Online-Formaten – Achtsamkeit, Körper und Zoom-Erschöpfung”. Das Video können Sie sich hier anschauen.

Vera Kaltwasser, Oberstudienrätin an der Elisabethenschule in Frankfurt, Theaterpädagogin, MBSR-Lehrerin und in der Lehrerfortbildung tätig. Weitere Ausbildungen: Qigong und Freiburger Lehrercoaching (Prof. Bauer). Mehr über Vera Kaltwasser und die AISCHU-Lehrerfortbildung: www.vera-kaltwasser.de

Buchtipp:
Vera Kaltwasser, Praxisbuch Achtsamkeit in der Schule.
Selbstregulation und Beziehungsfähigkeit als Basis von Bildung, Weinheim, Beltz 2016

 

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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