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Achtsamkeit im Bundestag?

Deutscher Bundestag / Achim Melde
Deutscher Bundestag / Achim Melde

Interview mit dem Leadership-Trainer Chris Tamdjidi

Ein Novum in der Politik: Chris Tamdjidi, Leiter der Kalapa Leadership Academy, vermittelt Achtsamkeit im Bundestag und in der Europäischen Kommission. Sein innovatives Konzept ”WorkingMIND” wurde 2016 als bestes Training Europas ausgezeichnet. Im Interview gab er Ethik heute einen Einblick in seine Pionierarbeit.

Das Interview führte Michaela Doepke

Frage: Herr Tamdjidi, Sie sind Initiator eines der weltweit umfassendsten Forschungsprojekte zur Wirkung von Achtsamkeit im Unternehmensalltag mit der Hochschule Coburg. Wie kam es zu diesem Erfolg?

Chris Tamdjidi: Wir haben ein starkes Interesse an der Wirksamkeit und Nachhaltigkeit unserer Programme. Daher haben wir schon sehr schnell Forschung in unser Angebot integriert. Wir messen z.B. vorab die Herzratenvariabilität oder den Blutdruck der Teilnehmer, und werten auf der Basis dann die Ergebnisse unserer Achtsamkeitstrainings aus. Kernfrage ist: War das Programm hilfreich für die Menschen in den Unternehmen? Auf dieser Basis entwickeln wir Programme, die wir dann auch mit Forschung begleiten.

Und was hat sich konkret in den Unternehmen seither verändert?

Chris Tamdjidi: Wir leiten sehr große Projekte, eines derzeit mit 30.000 Teilnehmern weltweit. Das allein ist von den Unternehmen schon ein Zugeständnis. Sie haben erkannt, dass es im heutigen Arbeitsalltag sehr wichtig ist, den Mitarbeitern und Führungskräften zu helfen, besser mit sich umgehen und Fürsorge füreinander entwickeln zu können.

„Immer mehr Firmen verstehen, dass es den Menschen gut gehen muss“

Chris Tamdjidi: Die Firmen verstehen mehr und mehr, dass es den Menschen gut gehen muss, dass sie in die Mitarbeiter als Menschen „investieren“ müssen. Das ist eine grundlegende Veränderung des Verständnisses. Es entwickelt sich zunehmend eine neue Achtsamkeitskultur: z. B. Achtsamkeitsräume oder gemeinsame Praxis in Unternehmen. Der Prozess schreitet fort vom Individuellen zum gesamtgesellschaftlichen Kontext.

In letzter Zeit engagieren Sie sich neuerdings verstärkt dafür, dass eine Kultur der Achtsamkeit in der Politik Einzug hält. Wie ist es dazu gekommen?

Chris Tamdjidi: Das war eher ein Zufall. Im Englischen Parlament wurde ein Ausschuss gegründet, um die Effekte von Achtsamkeit in der Gesellschaft zu ergründen. Ich wurde eingeladen, im Rahmen dieses parlamentarischen Prozesses beim Thema Achtsamkeit mitzuwirken. Wir wollten Achtsamkeit verstärkt in die Unternehmenswelt einführen. Daraus ergaben sich auch Kontakte ins Deutsche Parlament. Ich habe dadurch in der Folge auch Kontakte ins Europäische Parlament und in die Europäische Kommission bekommen.

Achtsamkeit für Bundestagsabgeordnete

Sie leiten Achtsamkeitsseminare für Bundestagsabgeordnete. Wie können wir uns das vorstellen und was ist die Absicht? Soll der ganze Bundestag meditieren?

Chris Tamdjidi: Ich erlebe Bundestagsabgeordnete als Menschen, die sehr sehr viel Stress haben, aber eigentlich nie gelernt haben, gut damit umzugehen. Das trägt meines Erachtens zu sehr konfliktreichen Verhältnissen in der Politik bei. Es ist also wichtig, dass die Menschen, die so viel Verantwortung tragen, lernen, mit Stress umzugehen.

Chris Tamjidi (Foto privat)

Die Politikerinnen und Politiker haben unvorstellbar volle Terminkalender. Es ist also essenziell wichtig, dass sie entschleunigen, denn dadurch werden sie menschlicher. Und da gab es wirklich bewegende Erlebnisse. Wir haben tiefe, ehrliche Gespräche über das Menschsein geführt, darüber, was es heißt als Mensch in der Politik aktiv zu sein.

Haben Sie sich dabei an der Mindful-Nation-Initiative im Englischen Parlament orientiert? Dort wurde von allen Abgeordneten parlamentsübergreifend eine Broschüre mit Empfehlungen zur Achtsamkeit in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Wirtschaft und Strafvollzug herausgegeben (Mindful Nation UK. All Party Parliamentary Report).1

Chris Tamdjidi: Ja, ich habe den Bundestagsabgeordneten diese Broschüre auch gegeben. Aber ehrlich gesagt, das haben sie nicht gelesen. Es war schön zu sehen, dass sie eher an sich selbst interessiert waren und an der Frage: Was macht das mit mir?

Haben Sie ein 8-Wochen-Achtsamkeitstraining für die Bundestagsabgeordneten gegeben?

Chris Tamdjidi: Es war ein modifiziertes 8-Wochen-Training. Man muss ja aufpassen, dass es in die Sitzungswochen reinpasst. Das Training erstreckt sich dann zumeist über 14 Wochen und musste auf deren Kalender abgestimmt werden.

Und waren das Bundestagsabgeordnete aus allen Parteien?

Chris Tamdjidi: Nein, das waren interessanterweise vor allem Abgeordnete von zwei Parteien.

Europäische Kommission: Rückbesinnung auf humanistische Werte

Im Moment arbeiten Sie in der Europäischen Kommission zum Thema „Enlightenment 2.0.“ Was ist das für eine Tätigkeit?

Chris Tamdjidi: Zum einen arbeiten wir mit den Direktoren dort zum Thema Achtsamkeit. Es handelt sich um spezielle, auf die Führungsebene ausgerichtete Programme. Diese beinhalten auch Pre- und Postevaluationen zum Thema kollektive Intelligenz. Wir testen konkret, inwiefern die achtsame Präsenz Einfluss auf die kollaborative Entscheidungsfindung hat. Der zweite Bereich, in dem wir tätig sind, ist die Zusammenarbeit mit der Gruppe, die sich mit der Politik in Europa befasst und wie man diese positiv beeinflussen kann. Das nennen sie “Enlightenment 2.0”.

Ging dieser Titel von der Europäischen Kommission aus?

Chris Tamdjidi: Genau. Der Titel ging von ihnen aus. Sie wollten von führenden Wissenschaftlern auf der ganzen Welt erfahren, was getan werden muss, um die Politik in Europa positiv zu beeinflussen. Wir wollten dabei helfen, und haben ein Achtsamkeitstraining angeboten, um deren Ziele zu unterstützen. Es ging uns auch darum zu vermitteln, wie das menschliche Gehirn funktioniert und wie wir uns dank Neuroplastizität anders verhalten können.

Zunächst waren die Mitglieder sehr skeptisch bezüglich der Rolle von Achtsamkeit. Erst nach und nach entwickelten sie Interesse. Wir haben in der Folge mit ihnen drei Projekte durchgeführt, so dass sie auch erkennen konnten, dass das Training starke Auswirkungen auf einige wichtige Themen hat, die sie als Ziele festgelegt hatten. Also ich erlebe sowohl im Bundestag als auch in der Kommission eine große Dankbarkeit für dieses Verstehen, wie man wieder menschlicher wird und achtsam mit sozialen Themen umgehen kann.

Und wie ist es zur Zusammenarbeit mit der Europäischen Raumfahrtagentur ESA gekommen?

Chris Tamdjidi: Die Anfrage ging von der ESA aus, die ja sehr technisch orientiert ist. Sie haben mitbekommen, dass wir unsere Programme wissenschaftlich begleiten. Wir haben mit ihnen auch Aufmerksamkeitstests durchgeführt. Die Mitarbeiter der ESA haben natürlich viel Stress bei Entscheidungsfindungen. Sie arbeiten an mehreren Standorten in Europa.

Was ist Ihre persönliche Motivation, politisch Verantwortlichen Achtsamkeit zu vermitteln?

Chris Tamdjidi: Wir Menschen könnten alle durch Menschen gemachte Probleme der Welt lösen, tun es aber nicht. Und zwar nicht, weil wir es nicht können, sondern weil wir es oft nicht wollen. Vor allem wollen wir nicht zusammenarbeiten. Die Konkurrenz steht im Vordergrund. Das ist eine Sache, dass die Politiker wieder merken, wie wichtig die Kooperation ist.

Das zweite ist, dass die Menschen in der Politik eher idealistisch ausgerichtet sind. Aber im Laufe der Zeit haben viele ihren Idealismus verloren, und das macht sie leicht zynisch. Ich denke, da kann man auch sehr viel Motivation wecken, damit sie wieder die Wertschätzung für das, was sie tun, entdecken.

Es geht Ihnen also vor allem um die Vermittlung von Humanität und ethischen Werten.

Chris Tamdjidi: Ja genau. Wenn wir uns darauf besinnen, wird vieles einfacher.

„Mehr an mentaler Hygiene arbeiten“

Wie sieht für Sie die Welt von morgen aus? Wie sieht Europa aus? Werden uns künftig Alphatiere und Populisten regieren und Nationalismen die Oberhand gewinnen?

Chris Tamdjidi: Ich glaube, wir müssen an vielen Bereichen arbeiten. Erstens muss die gesamte Politik spüren, dass Menschen soziale Wesen sind und ihr körperlicher Zustand und ihre soziale Einbindung ihre Entscheidungsfindung beeinflusst. Wenn man die Dinge nur rational ökonomisch sieht, werden wir den Menschen nicht verstehen oder die Türen öffnen für Mitgefühl und Solidarität. Das heißt, die Politik muss den Menschen besser verstehen und diesen Aspekt des Menschseins mehr berücksichtigen.

Zweitens wäre es gut, gezielt an mentaler Hygiene arbeiten. Wir sorgen zwar für körperliche Hygiene, aber in Zukunft brauchen wir das auf geistiger Ebene, auch in der Art und Weise, wie wir mit Informationen umgehen. Ich halte es auch für notwendig, dass wir eine Gesetzgebung haben, einen Schutz davor, dass wir nicht vergiftet werden von Informationen, die nicht wahr sind.

Sehr wichtig ist natürlich auch, dass wir als Bevölkerung, als Gesellschaft das Thema Selbstregulierung, Selbststeuerung, Empathie lernen müssen – und zwar ganz persönlich. Denn es wird mehr und mehr Unsicherheit und Beschleunigung im Arbeitsalltag geben. Und wenn wir hier nicht unsere Menschlichkeit hineinbringen, werden wir uns hilflos fühlen. Und wenn man sich hilflos fühlt, dann sucht man auch immer wieder Autoritäten und einfache Botschaften und geht Populisten auf den Leim.

Ist Achtsamkeit für Sie eine Bewusstseinskultur, um die Welt zu verändern oder, wie Jon Kabat-Zinn sagt, ein Heilmittel für die Krankheiten der Welt?

Chris Tamdjidi: Beides. Je mehr Veränderung kommt, umso mehr müssen wir unsere eigenen geistigen Prozesse verändern. Wenn wir das nicht tun, dann werden wir in den Widerstand gehen und das bedeutet Stress. Je mehr Dinge im Leben sich verändern, desto wichtiger wird die bewusste Fähigkeit zu bemerken, wenn unbewusste Aspekte unseren Geist steuern. Und daher ist es so wichtig, das Bewusstsein zu stärken und hier spielt Achtsamkeit eine sehr sehr wichtige Rolle.

„Viele Politiker spüren sich selbst nicht mehr“

Was ist Ihre Zukunftsvision und welche Werte möchten Sie konkret vermitteln?

Chris Tamdjidi: Der erste Schritt ist, dass die Menschen sich wieder selbst spüren. Viele Politiker tun das nicht. Sie haben sich von sich selbst abgeschnitten, teilweise als Überlebensstrategie wegen dem hohen Druck. Wenn sie sich aber wieder spüren, dann können sie auch andere spüren. Und das verständlich zu machen und zu vermitteln, was sie für sich selbst tun können, aber auch in Gruppen, das ist es, was mich bewegt und wofür ich viel Energie einsetze.

Wie verkörpern Sie selbst Achtsamkeit? Kommen Sie vor lauter Aktivitäten noch zur Ruhe?

Chris Tamdjidi: Ohne Meditation könnte ich nicht leben. Ich mache ca. vier Wochen Retreat pro Jahr, teilweise fünf Wochen, teilweise Einzelretreats, teilweise in Gruppen. Was den Alltag betrifft, so praktiziere ich ca. ein bis eineinhalb Stunden pro Tag, auch sehr früh, so ab 4:30 Uhr. Zudem versuche ich, zehn bis fünfzehn Mal pro Tag eine kleine Praxis im Alltag einzuhalten. Ohne diese Pausen würde es nicht gehen, weil ich sonst keine Bodenhaftung mehr habe.

Anmerkungen:
1 www.themindfulnessinitiative.org/mindful-nation-report

Christopher Tamdjidi, Geschäftsführer der Kalapa Leadership Academy GmbH Köln, Initiator eines der weltweit umfassendsten Forschungsprojekte zur Wirkung von Achtsamkeit im Unternehmensalltag mit der Hochschule Coburg. Sein innovatives Konzept ”WorkingMIND” wurde 2016 vom BDVT (Berufsverband für Training, Beratung und Coaching) als bestes Training Europas ausgezeichnet. Umsetzung von Achtsamkeitstrainings in mehr als 60 Firmen. Seit 2004 Konzeption und Durchführung von Trainings zu authentischer Führung, Stressbewältigung und Meditation. Studium der Physik am Imperial College of Science, Technology and Medicine/London und MBA an der University of Texas/Austin.
Mehr: www.kalapaacademy.de

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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