Ein Buch, das die Achtsamkeit weiterentwickelt
Wie können wir den aktuellen Krisen mit Achtsamkeit begegnen? Die Autoren erweitern die Achtsamkeit von der individuellen Praxis auf die soziale, ökologische und gesellschaftliche Ebene. Ein wichtiges Buch, das die Praxis der Achtsamkeit relevant macht für unsere Zeit.
„Achtsamkeiten“ ist ein Praxisbuch. Es ist aus der jahrelangen Achtsamkeitspraxis der Autoren, die alle drei Hochschullehrer sind, entstanden. Es will Menschen möglichst einfach und voraussetzungslos Übungen nahebringen, die nicht nur zu einem bewussteren Sein, sondern auch zum Handeln in der Welt inspirieren.
Sie nehmen den individuellen Fokus der Achtsamkeit wie Meditation, Wahrnehmungsübungen oder Körperübungen aus dem Yoga als Basis, um daraus das Verständnis und die Praxis von Achtsamkeit zu erweitern. Sie fassen diese Erweiterung der Achtsamkeit als ein „Schlüsselbund der Achtsamkeiten“, das die individuelle, soziale und ökosystemische Dimension umfasst.
Sie schreiben: „Du trainierst Deine Fähigkeit, bewusst im Hier und Jetzt zu sein, nicht nur im Geist meditierend auf dem Sitzkissen oder der Yogamatte. Sondern auch im Dialog, in der Gruppe und im unmittelbaren Kontakt mit der Welt.“
Von Mindfulness zu Heartfulness
Mit dem „Du“ wird der/die Lesende unmittelbar angesprochen und freundlich ermutigt, die Übungen auszuprobieren. Der individuelle Schlüssel umfasst die Praxisformen, die im Kontext der achtsamkeitsbasierten Stressbewältigung von Jon Kabat-Zinn Verbreitung finden, darunter die Sitz- und Gehmeditation, den Body Scan und daraus abgeleiteten Moving Body Scan oder das achtsame Schreiben.
In der sozialen Dimension bezieht sich das Buch auf dialogische Achtsamkeitspraktiken wie die Dyaden, welche die Neurowissenschaftlerin Tania Singer erforscht hat und in ihrem Programm Humanize anbietet. Dabei tritt man mit einem anderen Menschen in einen kontemplativen Dialog. Man lernt, sich in die Gefühlswelten eines anderen Menschen zu versetzen. Mindfulness wird ergänzt durch Heartfulness.
Eine erweiterte Form dieser Übung in einer Kleingruppe bezeichnen die Autoren als Social Body Scan. So wie man beim individuellen Body Scan den eigenen Körper tiefer wahrnimmt, wird hier das „soziale Feld“ des Miteinanders sensibler wahrgenommen.
Diese umfassendere Wahrnehmung wird in den ökosystemischen Achtsamkeitsübungen auf das Beziehungsfeld mit der Natur und den gesellschaftlichen Gegebenheiten erweitert. Beim sogenannten Eco Body Scan werden Übungen von Otto Scharmer und Arawana Hayashi genutzt. Hier ist der Körper das Ausdrucksmittel, um bestimmte Fragestellungen abzubilden, gemeinsam wahrzunehmen und neue Impulse zur Lösung zu erhalten.
Zukunftspotenziale erkennen
Beim Eco Body Scan kann man allein mit kreativen Materialien oder gemeinsam mit anderen Menschen in einer Aufstellung das private und berufliche Beziehungsgefüge, in dem man lebt, sichtbar werden lassen.
Darüber hinaus kann man das Ökosystem, in dem man lebt, und die darin liegenden Zukunftspotenziale wahrnehmen. Im Buch schildert Hubert Ostermeier, wie er zu neuen Ansichten kam, als er über die Wahl eines neuen Lebensmittelpunkts nachdachte. “In der Visualisierung konnte ich mit allen Sinnen wahrnehmen, was ich selbst möchte und in welcher Beziehung ich beispielsweise zu Menschen oder Regionen stehe.”
Eine weitere ökosystemische Übung ist das Eco Sense Lab, das ökologische Wahrnehmungsübungen mit bewusstem Sehen, Riechen, Hören, Schmecken und Tasten umfasst, um sich mit der lebendigen Welt zu verbinden und sich in der Natur von der Online-Zeit zu regenerieren.
Eine lebensdienliche Zukunft mitgestalten
Die Autoren möchten mit ihrem Werk auch einen Impuls in die Gesellschaft senden. Denn ohne die individuellen, sozialen und ökosystemischen Achtsamkeiten können wir den Herausforderungen wie Sinnkrise, soziale Polarisierung, Umweltzerstörung und Digitalisierung nicht nachhaltig und auf tieferer Eben begegnen.
Gleichzeitig ist ihr Ansatz auch eine Antwort auf die Kritik an der Achtsamkeit, dass sie Menschen noch selbstbezüglicher in einer „achtsamen Blase“ verschwinden lässt.
Achtsamkeit bedeutet in diesem erweiterten Verständnis nicht nur eine tiefere Anwesenheit im Hier und Jetzt, sondern auch die Frage, wie wir individuell und kollektiv eine lebensdienliche Zukunft gestalten können. Achtsamkeit erhält damit eine ethische Relevanz, die sie eigentlich immer hatte.
Denn wie die Weisheitstraditionen, aus denen die moderne Achtsamkeit stammt, immer betont haben: Meditative Praxis ist nur dann echt und vollständig, wenn sie auch unser Beziehungsverhalten transformiert und uns mitfühlend werden lässt für das Leiden in der Welt. Und wir daraus handeln. Es ist ein Verdienst dieses Buches, dass es dafür eine moderne Sprache findet und leicht zugängliche Übungen anbietet.
Mike Kauschke
Mike Sandbothe, Ryk Albrecht, Hubert Ostermaier. Achtsamkeiten – Übungen für mich, für uns und für die Welt. Fischer & Gann 2023