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“Achtsamkeit ist eine Industrie”

Panitan Photo/ Unsplash
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Die Kritik von Ron Purser

Achtsamkeitsprogramme wie MBSR individualisieren den Stress am Arbeitsplatz, die systemischen Ursachen werden ausgeklammert, sagt der Kritiker der modernen Achtsamkeit Ron Purser. Er spricht über Konzerne, die sich mit Achtsamkeitsangeboten aus der Verantwortung ziehen, statt die Bedingungen für die Mitarbeiter zu verbessern.

Der amerikanische Managementprofessor und Buddhist Ronald E. Purser hat seine Kritik in dem Buch „How Mindfiulness Became the Spirutuality of Capitalism“ dargelegt, in Deutsch erschienen unter dem Titel „Wie Achtsamkeit die Spiritualität des Kapitalismus wurde“, Verlag Mabuse 2021.

Das Gespräch führte Kathrin Fischer

Frage: Ron, könnten Sie uns in wenig ins Silicon Valley der 2010er Jahre entführen, der Zeit und dem Ort, in dem der Hype um Achtsamkeit begann? Sie haben damals dort an Achtsamkeits-Schulungen teilgenommen und habenund den berühmten Google-Mindfulness Trainer Chade-Meng Tan getroffen. Könnten Sie für uns Deutsche beschreiben, wie die Situation damals war?

Purser: Heutzutage gibt es viele Unternehmen in den Vereinigten Staaten, die Achtsamkeitsprogramme anbieten wie Ford Motor und Uber, die ihren Sitz nicht im Silicon Valley haben.

Achtsamkeit ist im Jahr 2022 eine 2-Milliarden-Dollar-Industrie und zwar eine sehr marktfreundliche Industrie. Es gibt inzwischen jede Menge Berater und Trainerinnen, die Achtsamkeits-Programme anbieten. Ihr Lebensunterhalt basiert auf dem Verkauf von Achtsamkeitsprogrammen.

Aber woher kommt eigentlich der Stress in Unternehmen? Die Achtsamkeits-Lehrenden diagnostizieren Stress in den einzelnen Individuen. Diese, so sagen sie, seien nicht ausreichend aufmerksam, nicht genug konzentriert, zu abgelenkt.

Mit Achtsamkeit-Praktiken bieten sie ein Programm an, das helfen soll, den individuellen Stress der Mitarbeitenden abzubauen und sich besser zu konzentrieren. Und konzentrieren sollen sie sich, damit sie produktiver sind und ihre Aufgaben erfüllen können.

Frage: Aber ist diese Diagnose wirklich zutreffend?

Purser: Aus der Arbeits-Forschung wissen wir, dass die wahren Ursachen für Stress am Arbeitsplatz nicht unbedingt darin liegen, dass die Einzelnen sich nicht konzentrieren können. Den Stress verursacht die Arbeitskultur: hoher Druck, lange Arbeitszeiten, schlechte Chefs, die Zwang ausüben, ein Mangel an Handlungsspielraum, Entscheidungsfreiheit und Autonomie.

Hinzu kommt in den Vereinigten Staaten natürlich auch die mangelnde Gesundheitsvorsorge wie bei Starbucks, einem der führenden Unternehmen in den USA. Bei Starbucks gibt es eine große Angst vor Entlassungen. Es gibt also eine Menge anderer Ursachen für Stress als die Diagnose, dass Stress im Kopf entsteht.

Auch Amazon bietet Achtsamkeit an: AmaZen

Frage: Demnach gehen die Achtsamkeitslehrenden von falschen Voraussetzungen aus?

Purser: Ja, die Achtsamkeitsprogramme individualisieren den Stress am Arbeitsplatz. Die systemischen Ursachen werden nicht untersucht. Damit nehmen sie die Unternehmensleitung im Grunde genommen aus der Verantwortung für die oftmals toxischen Bedingungen am Arbeitsplatz heraus.

Schauen wir uns ein weiteres Beispiel an: Amazon bietet mittlerweile auch ein Achtsamkeitsprogramm an. Genau wie Starbucks sieht sich Amazon mit einer Gewerkschaftsbewegung konfrontiert.

In den Amazon-Lagern müssen Arbeiter in einem schnellen Tempo neben Robotern arbeiten. In diesen Ausbeuterbetrieben haben sie nun ein Achtsamkeitsprogramm eingeführt. Das nennt sich AmaZen, wie Zen.

Es besteht aus Kabinen, die in den Lagerhallen aufgestellt werden. In dreiminütigen Pausen sehen sich die Arbeiter ein kurzes Achtsamkeitsvideo mit positiven Affirmationen, geführten Meditationen, Atemübungen etc. an. Danach machen sie mit ihrer Arbeit weiter, ohne dass sich an ihren Arbeitsbedingungen irgendetwas ändert.

Diese Geschichte ist ein Beispiel für das, was ich manchmal als spirituellen Libertarismus bezeichne, also eine sehr am Individuum ausgerichtete Spiritualität. Dieser geht zurück auf Leute wie Steve Jobs bei Apple. Jobs war sehr von östlicher Spiritualität, insbesondere Zen, fasziniert und etablierte gleichzeitig eine zielorientierte, ehrgeizige, hoch motivierte, zielgerichtete, gewinnorientierte Kultur in seinem Technologieunternehmen.

In gewisser Weise fallen hier Spiritualität und Kapitalismus zusammen und bilden das Narrativ, den Mythos von Silicon Valley: Dass man ein sehr profitables Unternehmen sein und sich gleichzeitig für ein höheres Gut engagieren kann.

Pflichtbewusst und achtsam sein

Ich frage mich: Sie sind praktizierender Buddhist. Macht Sie diese zynische Form von Achtsamkeit nicht wütend?

Purser: Ja, als ich anfing zu schreiben, da gab es schon so etwas wie ein Gefühl der moralischen Empörung. Andererseits komme ich aus dem Management- und Wirtschaftsbereich. Modetrends in Unternehmen finde ich daher nicht wirklich überraschend.

Und außerdem gibt es eine lange Geschichte der Aneignung asiatischer Spiritualität zur Unterstützung kapitalistischer Wertschöpfung. In der Unternehmenswelt ist der Hype um Achtsamkeit heute eine Art aktualisierte Version der protestantischen Ethik.

Arbeitnehmer sagen sich: Ich kann die toxischen Bedingungen an meinem Arbeitsplatz irgendwie ertragen, wenn ich Achtsamkeit praktiziere. Und wenn ich Achtsamkeit praktiziere, kann ich zudem vielleicht weiterkommen und auf der Karriereleiter aufsteigen. Ich werde pflichtbewusst und achtsam sein und tun, was man mir sagt.

Achtsamkeit fungiert in Unternehmen so als eine Art salvatorische Kraft, die den Menschen hilft, mit dem Status quo zurechtzukommen und sich anzupassen. In diesem Sinne wird sie fast zu einer Form der sozialen Amnesie.

Mehr zum Thema Achtsamkeit in der Kritik auf Ethik heute

 

Kathrin Fischer

Textauszug aus dem Ende 2022 gestarteten Podcast „Erschöpfung statt Gelassenheit – Warum Achtsamkeit die falsche Antwort auf ziemlich jede Frage ist“ von Kathrin Fischer. Die ganze Folge mit Ron Purser “McMindfulness” und weitere Interviews finden Sie bei Spotify, i-tunes und allen gängigen Podcast-Plattformen

Kathrin Fischer ist studierte Philosophin, gelernte Hörfunkjournalistin und hat knapp 15 Jahre beim Hessischen Rundfunk gearbeitet. 2012 erschien bei Piper ihr Buch “Generation Laminat”.

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