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„Achtsamkeit macht uns nicht zu besseren Menschen“

Robert Kneschke/ Fotolia
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Interview mit Dr. Simon Schindler

Sozialpsychologe Simon Schindler untersuchte den Zusammenhang von Achtsamkeit und ethischem Verhalten. So wurden Menschen, die Fleisch essen, mit Tierleid konfrontiert. Die „Achtsamen“ zeigten weniger Gewissensbisse und waren weniger bereit ihr Verhalten zu ändern. Schadet Achtsamkeit der Ethik? Ein Interview mit dem Wissenschaftler.

 

Das Interview führte Birgit Stratmann

Frage: Sie haben an einer Studie gearbeitet mit dem Titel: „Mögliche negative Konsequenzen von Achtsamkeit auf die Moral“. Wie kamen Sie zu dieser Fragestellung, was war Ihre Motivation?

Schindler: Ich praktiziere selbst Achtsamkeit, vor allem Zen-Meditation, und habe lange Zeit geglaubt, dass Achtsamkeit ein Allheilmittel ist – für die Gesundheit und für gesellschaftliche und globale Probleme. Doch dann kam mir die Frage, ob Achtsamkeit auch unerwünschte Nebenwirkungen haben könnte.

Ist das Ihre Ausgangsfrage gewesen, ob Achtsamkeit schädlich sein kann?

Schindler: Ja, das war die Fragestellung. Wir sind natürlich nicht die ersten, die diese Frage stellen. Hartmut Rosa beispielsweise hat, eher theoretisch, Achtsamkeit als unpolitisch kritisiert. Wir gehen einen Schritt weiter und wollen die Idee empirisch überprüfen, das heißt, mit Experimenten. Ich habe übrigens bei keiner meiner bisherigen Publikationen eine so große mediale Nachfrage erlebt.

Welchen Achtsamkeitsbegriff haben Sie zugrunde gelegt?

Schindler: Gute Frage, denn hier gerät in den Diskussionen vieles durcheinander. Es gibt ganz unterschiedliche Begriffe. Häufig wird Achtsamkeit in einem Atemzug mit Empathie, Mitgefühl genannt. Wir halten uns an diese Definition: Achtsamkeit ist ein bestimmter Bewusstseinszustand, in dem momentan erlebte Erfahrungen wie Gedanken und Gefühle wahrgenommen werden – und zwar aus einer Beobachterperspektive. Wichtig dabei ist: Man bewertet nicht, sondern nimmt eine neutrale, akzeptierende Haltung ein.

Sie legen also die Definition von MBSR zugrunde. In der buddhistischen Tradition etwa wird die Aufmerksamkeit nicht nur auf den gegenwärtigen Moment, sondern auch z.B. auf die ethischen Regeln, die man einhalten will.

Schindler: Ich bin kein Buddhismus-Experte, aber das scheint mir in der Tat ein zentraler Unterschied im Vergleich zur „importierten“ Achtsamkeit zu sein. Ich spreche hier von „nackter“ Achtsamkeit, das heißt, losgelöst von einer bestimmten Ethik, eben wertfrei. Im Gegensatz zum Buddhismus, geht es in unserer Gesellschaft primär um Wellness, um meine private Zufriedenheit, meine Optimierung. Man kann vieles achtsam tun, achtsam spazieren gehen, Sport machen, Sex haben.

Einzelne Studien mit Vorsicht genießen

Was haben Sie in Ihren Experimenten herausgefunden?

Schindler: In fünf Experimenten haben wir bei Menschen ein schlechtes Gewissen erzeugt und dann erfasst, wie Sie damit umgehen. Bei denjenigen, die Achtsamkeit geübt hatten, war die Bereitschaft, einen entstandenen Schaden wieder gut zu machen bzw. schädliches Verhalten zu ändern, schwächer ausgeprägt als in der Kontrollgruppe.

Am besten zeigt dies das Experiment zum Fleischkonsum. Wir haben Fleischesser zunächst eine etwa zehn-minütige Achtsamkeitsübung machen lassen, also im gegenwärtigen Moment verweilen, ohne zu bewerten. Eine Kontrollgruppe hat die Gedanken einfach schweifen lassen. Anschließend zeigten wir ein Video über dieUmweltschäden und das Tierleiden durch Fleischkonsum.

Dann fragten wir: Wie ausgeprägt ist das schlechte Gewissen wegen des Fleischkonsums? Wie groß ist die Bereitschaft, das Verhalten in Zukunft zu ändern? Die „achtsamen“ Leute berichteten im Vergleich zur Kontrollgruppe wesentlich weniger moralische Zweifel und zeigten eine geringere Bereitschaft, in Zukunft weniger Fleisch zu essen.

Sie haben also nicht getestet, ob sich das Verhalten dann tatsächlich verändert hat?

Schindler: Nein, in diesem Experiment nicht. Hier ging es zunächst um die Verhaltensabsicht.

Sie schreiben, dass in drei von fünf Experimente die Ergebnisse nicht signifikant seien. Muss man das alles daher mit Vorsicht genießen?

Schindler: Auch wenn die Effekte bei drei Experimenten „nicht signifikant“ waren, so bedeutet dies nicht, dass nichts dabei herausgekommen ist. Wichtig ist, sich alle fünf Experimente anzuschauen. Aber klar ist auch: Man muss die Ergebnisse einzelner Experimente immer mit Vorsicht genießen! Studien liefern immer nur ein weiteres Argument für oder gegen eine Idee.

Unsere Forschung ist ihrem Wesen nach vorläufig und kann sich der Wahrheit bestenfalls nähern. Deshalb habe ich bei dem großen medialen Interesse auch gemischte Gefühle. Meine Intention ist deshalb die Idee in den Raum zu stellen, dass Achtsamkeit negative Aspekte haben kann, die wir bisher übersehen haben und eventuell nicht sehen wollen.

Achtsamkeitsprofis könnten noch besser darin sein, Schuldgefühle auszublenden

Es waren fünf Experimente mit insgesamt rund 700 Teilnehmern. Wie aussagekräftig sind die Ergebnisse bei so einer kleinen Gruppe?

Schindler: Für experimentelle Untersuchungen ist Repräsentativität nicht vorrangig. Daher ist die Versuchspersonenzahl in den meisten unserer Experimente ausreichend. Wenn 50 Leute eine Achtsamkeitsübung machen und 50 keine, dann können wir daraus durchaus Schlussfolgerungen ziehen. Natürlich kann man das weiter differenzieren, etwa nach Bildungsabschluss, Alter, oder Beruf. Aber es sollte einen guten theoretischen Grund dafür geben. Das ist auch in weiteren Experimenten geplant.

Im nächsten Schritt untersuchen wir: Gibt es Bedingungen, in denen die Effekte stärker oder schwächer auftreten? Welche Rolle spielen persönliche Werte und Ziele? Wenn Manager zum Beispiel vorhaben, Mitarbeiter zu entlassen, dann würde Achtsamkeit unserer Idee nach das schlechte Gewissen dämpfen.

Die Versuchspersonen haben in der Mehrzahl keine Erfahrungen mit Achtsamkeit, sondern nur eine kurze Anleitung zur Meditation bekommen. Müsste man nicht Experimente mit Menschen machen, die erfahren in Achtsamkeitspraxis sind, um Aussagen über die Wirkung machen zu können?

Schindler: Ja, das wäre in der Tat wünschenswert und ist auch für die Zukunft geplant. Wenn allerdings das Nicht-Bewerten für schwächere moralische Reaktionen verantwortlich ist, dann sollten Achtsamkeitsprofis noch besser darin sein, Schuldgefühle auszublenden. Das ist empirisch eine offene Frage, da Achtsamkeit auch das Empathie-Empfinden steigern kann.

Allerdings haben Menschen mit viel Achtsamkeits-Erfahrung oft auch ein bestimmtes gemeinsames, z.B. buddhistisches Weltbild. Das macht es schwierig, den reinen Effekt von Achtsamkeit zu untersuchen.

Achtsamkeit hilft, die Ziele besser zu erreichen

Die Werte sind ja immer unterschiedlich. Wenn ein Mensch Achtsamkeit übt und trotzdem Fleisch isst, kann sein Verhalten ja viele Gründe haben. Es muss nicht auf Achtsamkeit zurückgeführt werden.

Schindler: Das ist genau mein Punkt: Alleine durch Achtsamkeitsübungen wird nicht alles gut. Unserer Idee nach macht uns Achtsamkeit nicht automatisch zu empathischen, mitfühlenden, friedvollen Menschen, sondern: Achtsamkeit hilft mir, meine Ziele besser zu erreichen. Und die Ziele können ethisch gute oder schlechte sein. Wenn ein Manager Mitarbeiter entlässt, so kann er das, wenn er Achtsamkeit übt, mit weniger innerem Widerstand tun. Oder Achtsamkeits-geübte Soldaten können besser mit Angst umgehen und damit effektiver handeln.

Wenn wir über Ziele reden, sind wir mitten in der ethischen Debatte. Ich habe überhaupt nichts gegen Achtsamkeit, sie hat einen großen Nutzen. Und ich bin auch dafür, Achtsamkeitsübungen an Schulen zu machen. Was mir mit dieser Studie wichtig ist: Zur Achtsamkeit gehört unbedingt eine ethische Debatte.

Würde das nicht eher für die Ethik statt gegen die Achtsamkeit sprechen?

Schindler: Genau, das spricht für die Wichtigkeit von Ethik und nicht gegen Achtsamkeit. Aber viele, die Achtsamkeit üben, reagiere sehr empfindlich auf Kritik. Auch in der Achtsamkeits-Forschung zeigt sich eine Überinterpretation von Achtsamkeitseffekten, vor allem was die prosoziale Natur angeht. Allerdings ist die Befundlage in diesem Bereich eher dünn. Da scheint mir vieles von Wunschdenken getrieben zu sein.

Es gibt ja viele Studien in dieser Richtung, warum halten sie diese für nicht ausgereift?

Schindler: Viele Studien zu Achtsamkeit kommen u.a. aus dem neurowissenschaftlichen Bereich. Hier spielt die Verhaltensebene keine zentrale Rolle. Als Sozialpsychologe interessiert mich vor allem der direkte Umgang mit anderen. Es gibt viele Arbeiten, die für eine positive Auswirkung von Achtsamkeit auf Entspannung und Stressreduktion sprechen. Aber ob Achtsamkeit unsere Werte verändert und uns zu besseren Menschen macht, ist damit nicht gesagt.

„Wir müssen die ethische Debatte führen“

Für wie wahrscheinlich halten Sie nach Ihrer Studie die Aussage, dass Achtsamkeit die Moral untergräbt?

Schindler: So absolut ist es nicht, sondern es kann Situationen geben, in denen Achtsamkeit moralische Reaktionen schwächt. Das ist vom Ziel abhängig. Wenn ich in Urlaub fliegen will, mir aber Gedanken um den Klimawandel mache, dann kann ich mit Achtsamkeit die Gewissensbisse besser los werden. Denn Achtsamkeit hilft, Emotionen zu regulieren. Dazu gehören Wut und Hass. Daraus resultierende destruktiven Impulse können durch Achtsamkeit geschwächt werden. Unserer Idee nach gilt das aber auch für Impulse aufgrund moralischer Emotionen, wie Schuld, Gewissensbisse usw. . Ich habe deshalb starke Zweifel, dass Achtsamkeit uns automatisch zu engagierteren Klimaschützern oder Vegetariern macht. Ich kann das von mir selbst leider auch nicht behaupten.

Andersherum scheint der Zusammenhang stichhaltiger zu sein, nämlich dass Achtsamkeit nicht per se moralisches Verhalten fördert.

Schindler: Ich würde es so sagen: Achtsamkeit kann dabei helfen, dass Sie Ihre moralischen Vorstellungen und ethischen Regeln besser einhalten können. Ich sehe Achtsamkeit als ein Instrument, mit dem sich Ziele erreichen lassen. Man kann deswegen auch sagen, dass Achtsamkeit sehr gut zu unserer Leistungsgesellschaft passt.

Welche weiteren Studien würden Sie zu diesem Themenkomplex in Zukunft gern machen, um mehr über den Zusammenhang von Ethik und Achtsamkeit zu erfahren?

Schindler: Unsere Hauptfrage ist, wie sich Achtsamkeitsübungen auf das soziale Miteinander auswirken. Dazu planen wir ein größeres Forschungsprojekt, in dem wir z.B. längere Zeiträume und konkretes Verhalten untersuchen. Wichtig ist vor allem herauszufinden, wann Achtsamkeit positive und wann negative Auswirkungen hat. Nur wenn wir für beides offen sind, werden wir dem wissenschaftlichen Anspruch nach Erkenntnis gerecht.

 

Simon Schindler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Sozialpsychologie an der Universität Kassel. Neben Achtsamkeit beschäftigt er sich u.a. mit den Themen Lügen bzw. Lügenerkennen und dem Einfluss der eigenen Sterblichkeit.

 

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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