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Ältestes Immigrantendrama der Welt

Foto: SF/ Thomas Aurin
Oper Médée bei den Salzburger Festspielen, mit Elena Stikhina |
Foto: SF/ Thomas Aurin

Die Oper Médée neu inszeniert

Die Neuinszenierung der Oper „Médée“ von Luigi Cherubini in Salzburg im August 2019 spiegelt die aktuelle Flüchtlingstragödie. Um unser Mitgefühl für die Migranten zu wecken, inszeniert Regisseur Stone das Thema des Fremdseins im heutigen Salzburg, auch als Anspielung auf die österreichische Politik.

Die Neuinszenierung der Oper „Médée“ von Luigi Cherubini (1797 in Paris erstmals aufgeführt) wurde auch bei der Premiere im Großen Festspielhaus in Salzburg Anfang August 2019 kräftig bejubelt. Der antike Mythos, der hier verarbeitet wird, zeigt, dass Betrug, Wut, Rache, Gewalt und Machtspiele schon immer herrschten, wo Menschen zusammenlebten.

Doch für das Leid derjenigen, die in die Isolation getrieben werden und außerhalb der Gesellschaft, womöglich im Exil leben, zeigt die Gesellschaft kein Mitgefühl. Für den 34-jährigen Regisseur Simon Stone ist dies „das älteste Immigrantendrama der Welt”, das er radikal in die Jetztzeit und ins heutige Salzburg verlegt.

Liebe, Hass, Rache und Tod

Seit 2500 Jahren wird die griechischen Sage von Medea und Jason immer wieder neu erzählt. Wenn Jason den Königsthron seines Vaters zurückerobern will, muss er vorher das Goldene Vlies – das Fell eines goldenen Widders – beschaffen. Problem: Es wird weit entfernt, bei König Aietes am Ostufer des Schwarzen Meeres in einem Tempel aufbewahrt.

Dort angekommen, verliebt sich die zauberkundige Königstochter Medea in Jason und hilft ihm, das Vlies zu rauben. Zum Dank führt er sie als Gemahlin nach Korinth, wo sie zwei Söhne zur Welt bringt. Doch Medea lebt dort als eine Fremde und wird von den Korinthern verachtet. Bald verstößt Jason sie und ersetzt sie durch Dircé, die Tochter von König Kreon. Medea will Jason zurück gewinnen, vergeblich, sie verfällt in Verzweiflung, Hass, Rache und stirbt.

Luigi Cherubini (1760-1842) interpretiert die Sage der Medea in seiner Oper „Médée“. Der australisch-schweizerische Regisseur Stone brachte sie im Sommer 2019 in Salzburg auf die Bühne. Seine Medea ist eine Frau im Exil, die ihren getrennt lebenden Mann und die Kinder noch immer tief liebt.

In Stones Interpretation erscheint sie als Geflüchtete im heutigen Salzburg: eine einsame Außenseiterin, die aus Liebe für ihren Gatten alles aufgegeben hat. Doch er ist ein Opportunist, der sie bald verlässt – er begehrt nun die Tochter des Landesvaters Kreon. Médée wird des Landes verwiesen und so zur einsamen Fremden, wurzellos auf der ganzen Welt. Als Emigrantin im fremden Land keine Rechte zu haben, weckt in ihr das „Gefühl, selbst Gerechtigkeit üben zu müssen“.

Die Heimatlosigkeit ist der Schlüssel zu ihrem tragischen Ende. Ihr Schmerz und ihre Wut auf Jason, der sie um alles gebracht hat, treiben sie in den Wahnsinn. Um den Macho Jason ähnlich tief zu verletzen, wird sie zum „Racheengel“, der seine neue Frau, deren Vater, die beiden Kinder und schließlich sich selbst tötet. In der Psychiatrie wird deshalb so eine Tötung aus Rache als „Medea-Syndrom“ bezeichnet.

Familiendrama „Médée“, Foto: SF/ Thomas Aurin

Per Handy aus dem Land verbannt

Um unser Mitgefühl für die Migrantin zu wecken, inszeniert Stone das Thema des Fremdseins im heutigen Salzburg. Das ist eine – technisch perfekt gemachte – Anspielung auf die österreichische Tagespolitik und, ganz generell, auf die patriarchalische Ordnung. Diese trägt letztlich die Mitschuld am tragischen Ende.

Zur Ouvertüre führt ein Schwarzweiß-Video auf bühnenfüllender Leinwand den Zuschauer in die Zeit zurück, als die Ehe Medeas mit Jason noch intakt war. Stone zeigt ein verliebtes Paar, einen glücklichen Familienalltag in einer Villa am Fuschlsee. Dann lernt Jason die Tochter von Landesvater Kreon kennen, Dircé. Das Familienglück zerrinnt, der Termin beim Scheidungsanwalt folgt. Als die Oper dann beginnt, tritt das neue Paar bereits mit den Kindern als Familie auf. Medea aber ist einsam und isoliert.

Als die Leinwand hochgezogen wird, kommt Farbe und Lebendigkeit auf die Bühne des Großen Festspielhauses. Bob Cousins hat Sets gebaut, die vor Leben wimmeln. Hochzeitzeitsvorbereitung im Brautkleidsalon, eine überfüllte Hotellobby und ein Nachtclub, wo Landesvater Kreon, gespielt vom Bass Vitalij Kowaljow, sich amüsiert und nebenbei Medea mit einem Anruf per Handy aus seinem Reich verbannt.

Die Titelrolle war besetzt mit der 32-jährigen russischen Sopranistin Elena Stikhina. Ohne Ermüdung sang sie ihre Riesenpartie mit allen Emotionen von Enttäuschung, Wut und Rache. Die Wiener Philharmoniker, unter der musikalischen Leitung von Thomas Hengelbrock, interpretierten Cherubinis Medodien mit Dramatik und Schönheit.

Lifestyle-Melodram

Während das neue Paar seine Hochzeit vorbereitet, kehrt die leidende und kämpferische Medea zurück nach Salzburg. Stone teilt dazu die Bühne in zwei Stockwerke. Oben wird Medea in der Ankunftshalle auf dem Flughafen festgehalten. Darunter ist Jasons Luxus-Appartement, in dem sich Medeas Freundin, das Kindermädchen Néris (Alisa Kolosova), aufhält. Die beiden Kinder spielen das Videospiel Fortnite und mit einem Hoverboard. Als sie ins Bett gehen, wird im Wohnzimmer das Geschehen aus dem oberen Stockwerk live im Fernsehen übertragen. Néris sieht, wie Kreon der Medea am Flughafen die Wiedereinreise verweigert. Sie ertrotzt mit einem Liegestreik die Aufenthaltserlaubnis für einen Tag. Die Bilder werden zur Wiederholungsschleife.

Mit Medeas Entschluss, sich an Jason zu rächen, steigert Dirigent Hengelbrock den Klang zu einer Intensität voll emotionaler Tiefe. Medea schleicht sich ins Hochzeits-Dinner, ersticht die Braut und ihren Vater. Begleitet von Gewittermusik mit Donnerblech folgt im Video die Flucht von Medea mit den Kindern, die in einer trostlosen Tankstelle endet. Vor Jasons Augen brennt schließlich das Auto mit der Mutter und ihren Kindern.

Betroffenheit reicht nicht, um Verhalten zu ändern

Der Vorhang fiel nach rund zweieinhalb Stunden. Das Publikum würdigte es mit einem „Beifallsorkan“, insbesondere für Elena Stikhina. Starken Applaus gab es auch für das Regieteam und für die leidenschaftliche Interpretation der Wiener Philharmoniker unter Leitung von Thomas Hengelbrock.

Dieser Publikumserfolg steht in Kontrast zu zahlreichen Kritiken, in denen die idealisierende Ästhetik von Stones Aufführung bemängelt wurde. Es sei zu nahe an der Werbung, jedes Bild sei ein Klischee, die Verortung in der lokalen Oberschicht banalisiere den Mythos und mache daraus „einen mörderischen Ehekrimi im Salzburgischen Halbweltmilieu“.

Beim Verlassen des Festspielhauses sahen die 2200 festlich gekleideten Zuschauer aus wie Jasons Hochzeitsgäste. Wie viele mögen sich von Simon Stones emotionalen Bilder von Leiden, Hass und Verrat betroffen gefühlt haben? Sind wir alle nur Zuschauer der Dramen der anderen? In der Umkehr des Medea-Mythos gilt die Einsicht, dass innerer Frieden, Freiheit und Freude erst in Verbindung mit Tugend, Respekt und gegenseitiger Fürsorge entstehen.

Die Salzburger Nachrichten berichteten über ein Festspiel-Symposium, das Medea als die erste Feministin bezeichnete. Die deutsche Anwältin Seyran Ates weiß als Muslima und Migrantin, wie schwer es für viele Muslime in Deutschland ist, sich zurechtzufinden. In Gefängnissen ist sie Frauen begegnet, die ihre Kinder getötet haben. Alle waren tief verletzt, wurden diskriminiert und geschändet. Oft hatten die Ehemänner gedroht, die Kinder zu töten, wenn sie ihn verlassen würden. Für Ates ist Medea „eine Geschichte für selbstbestimmtes Leben.“

Gerald Blomeyer

 

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