Ein Buch von Dr. Helmut Seitz
Dr. Helmut Seitz hat eine Mission. Er will über die Gefahren von Alkoholkonsum aufklären. Alkoholkonsum sei die Todesursache Nummer 1 in Deutschland. Doch aus Sicht von Kerstin Chavent greifen Aufklärung, Werbeverbote und andere Maßnahmen zu kurz.
Alkohol kann töten. Nach Dr. Helmut Seitz, ärztlicher Direktor am Krankenhaus Salem, Chefarzt der Klinik St. Vincentus in Heidelberg und Direktor des Alkoholforschungszentrums der Universität Heidelberg, ist Alkoholkonsum in Deutschland sogar die Todesursache Nummer 1.
In seinem Buch „Die berauschte Gesellschaft“ weist er nachdrücklich auf die versteckten Gefahren einer verharmlosten Droge hin. Auch wenn im Klappentext steht, dass dieses Buch nicht die Freude am genussvollen Trinken nehmen will: Die Auflistung der Gefahren führt schließlich zu der Aussage, dass jeder Tropfen Alkohol zu viel ist. Ein herausfordernderes Thema für eine im Languedoc lebende Weinliebhaberin.
Zu viel Alkohol trinken ist ungesund. Das weiß jeder, der sich auch nur ansatzweise mit seiner Gesundheit beschäftigt. Genauso wie den meisten von uns klar ist, dass Rauchen nicht gut ist, zu wenig Schlaf und zu viel Stress, Fast-Food und Bewegungsmangel. Aber wo liegt die Grenze? Ab wann wird ein Problem zur Gefahr?
Wie wohl die meisten Menschen neige ich dazu, diese Grenze gemeinhin jenseits dessen anzusetzen, dem ich mich aussetze. Ich finde: Ich lebe gesund. Ich rauche nicht. Ich achte sehr auf eine natürliche, schadstoffarme Ernährung. Ich laufe jeden Tag mindestens eine Stunde lang durch die Natur. Doch ich gestehe es mir ein: Ich spaziere nicht nur gerne durch die Weinberge meiner Wahlheimat Frankreich. Ich trinke den Rebensaft auch sehr gerne.
Nachdem ich bisher immer dachte, ein bis zwei Gläser Rotwein seien sogar gesundheitsfördernd, halte ich nun ein Buch in den Händen, dass das Gegenteil behauptet. Freilich ohne Beweise zu nennen. Es gibt in dem Buch keine Quellenangaben, keine Hinweise auf die Titel und die Autoren der angeführten Studien. Es ist nicht nachvollziehbar, auf welche wissenschaftlichen Forschungsergebnisse Dr. Seitz sich bezieht.
Kein Gläschen in Ehren
“Alkohol – geliebt, verharmlost, tödlich”, so der Untertitel des Buches. Es will vor allem eines: warnen. In verständlicher Form macht der Autor auf die Auswirkungen der Sucht aufmerksam: dem geselligen und dem heimlichen Alkoholkonsum, dem Trinken in jedem Lebensalter, in der Schwangerschaft und im Seniorenheim.
Nach Seitz wird der gesamte Körper in Mitleidenschaft gezogen, nicht nur die Leber: die Bauchspeicheldrüse, das Herz, die Speiseröhre, der Magen, der Darm, das Gehirn, die Haut, die Muskulatur, die Knochen, das Immunsystem. Also mehr oder weniger direkt alle Organe und Körperteile.
Alkohol steht in direkter Verbindung mit Beschwerden wie Gicht, Depressionen, Diabetes mellitus, Stoffwechselerkrankungen und vor allem mit Krebs. Insgesamt 5,5 Prozent aller Krebserkrankungen stünden mit Alkohol in Verbindung. Bei Brustkrebs gibt es offenbar keine Schwellendosis. Jeder Tropfen birgt Gefahr..
Am Wesentlichen vorbei
Doch mit fortschreitender Lektüre werde ich den Eindruck der Einseitigkeit nicht los. Immer eindringlicher hebt sich der mahnende Zeigefinger, während ich über „Trunkenbolde“, „Schluckspechte“ und „Säufer“ lese. Der immer wieder ins Abwertende gleitende Ton macht auch vor der Aufzählung berühmter dem Alkohol verfallenen Menschen wie Goethe, Bach und Beethoven nicht Halt.
Um „den Feind Alkohol“ zu besiegen, bietet Seitz schließlich Lösungen an, die sich, ganz im Sinne der heutigen Medizin, darauf beschränken, die Symptome zu bekämpfen: massive Aufklärung über die Gefahren, Früherkennung, um möglichst früh behandeln zu können, Werbeverbot für alkoholhaltige Getränke, Preiserhöhungen und Einschränkungen der Möglichkeiten, Alkohol kaufen zu können.
Ich habe über das Buch viele Informationen bekommen: Trinken kann gefährlicher sein, als ich dachte. Zu Recht wird darauf hingewiesen, welchen Schaden schon geringe Mengen bei Jugendlichen anrichten können, während der Schwangerschaft und Stillzeit, am Steuer, in Zusammenhang mit Medikamenten. Alkohol kann Familien zerrütten, krank machen und Leben zu früh beenden. Er lässt abstumpfen und erhöht die Gewaltbereitschaft.
Doch die bloße Aneinanderreihung der Probleme und Auflistung dessen, womit sie bekämpft werden können, geht nicht in die Tiefe, ja für mich sogar an der wesentlichen Frage vorbei: Wie kommt es, dass wir so viel trinken? Warum berauscht sich eine ganze Gesellschaft? Welche Leiden und welche Leere stehen dahinter, wenn immer mehr Menschen ihr Leben nur noch mit einer Flucht in künstliche Paradiese ertragen können?
Das Alkohol-Problem scheint mir in Verbindung mit einer Gesellschaft zu stehen, die sich selbst zerstört. Wir scheinen die Realität nur noch im berauschten Zustand ertragen. Und Alkohol steht nicht allein, letztlich kann alles zur Droge werden: Einkaufen, Erfolg, Essen, aber auch Sport und Fitness.
Was könnte wirklich helfen? Dass wir lernen, achtsam im Hier und Jetzt zu leben und die Verbindung mit dem, was uns umgibt, vor allem aber mit uns selbst wieder herzustellen. Es ist an der Zeit, das Problem ganzheitlich anzugehen. Nur indem alle Faktoren einbezogen werden, können wir eine dauerhafte Lösung finden. Dazu brauchen wir keine erhobenen Zeigefinger, keine Feindbilder und keine Polizei, die uns kontrolliert. Wir brauchen vor allem Respekt, Wohlwollen, menschliche Wärme und die Bereitschaft, es miteinander auf einer tieferen Ebene zu versuchen. Keine Belehrungen von oben herab.
In diesem Sinne engagiert sich zum Beispiel das Projekt „Lieber schlau als blau“ der Saluskliniken, das vom Land Brandenburg gefördert wird.1 Auf der Website, die das gleichnamige Buch begleitet2, gibt es umfangreiche Informationen mit den entsprechenden Quellenangaben sowie Selbsttests für Betroffene und Arbeitsmaterialien für Therapeuten. Ein spezielles Programm richtet sich an Jugendliche. Mit dem Konzept Suchtprävention geht das Projekt an Schulen, um jungen Menschen bewusst zu machen, was in ihrem Körper geschieht, wenn sie Alkohol trinken.3 Denn nur, wenn wir uns selbst besser kennen und eigene Erfahrungen machen, können wir lernen und umsteuern.
Kerstin Chavent
Helmut Seitz. Die berauschte Gesellschaft. Alkohol – geliebt, verharmlost, tödlich. Kösel Verlag 2018
1 http://www.movus.de/lindow-lsab/
2 https://www.lieberschlaualsblau.de/, Lindenmayer, Johannes : Lieber schlau als blau. Entstehung und Behandlung von Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit, Beltz 2016
3 http://www.movus.de/lindow-lsab/bilder/Salus_Konzept_Suchtpraevention_2013.pdf