Das neue Buch von Matthieu Ricard
Der buddhistische Mönch plädiert in seinem neuen, über 900 Seiten starken Buch für den Altruismus, auch wenn er die Existenz des Egoismus nicht leugnet. Dieser habe jedoch keine Vorteile, daher müsse es darum gehen, Nächstenliebe zu kultivieren und gesellschaftlich umzusetzen.
Eigentlich hatte sich Matthieu Ricard die Aufgabe gestellt, die Existenz des Altruismus nachzuweisen. Solche Versuche hat es schon geben, zum Beispiel Joachim Bauer mit seinem Buch „Prinzip Menschlichkeit“. Dabei handelte es sich aber mehr um eine Streitschrift gegen die Vertreter der These, dass Menschen egoistisch veranlagt sind.
In diese Falle hat sich Ricard nicht begeben, es geht ihm nicht darum, den Egoismus zu verleugnen, sondern darum aufzuzeigen, dass wir ebenso eine Veranlagung zum Altruismus haben. Er behandelt den Vertreter des egoistischen Gens, Richard Dawkins, mit Respekt, verwendet den von Bauer heftig kritisierten Charles Darwin als reichhaltige Quelle, lediglich bei Sigmund Freud hat die Geduld von Ricard ein Ende.
Wenn wir auf das Geschehen in unserer Welt schauen, finden wir täglich Beispiele für menschlichen Egoismus wie auch für Großherzigkeit und Nächstenliebe. Es ist sehr erholsam, auf einen Autor zu treffen, der uns diese alltägliche Wahrnehmung nicht ausreden will. Er benutzt das Bild von zwei Wölfen (den egoistischen und den liebenden, sozial orientierten), die in uns miteinander kämpfen. Es ist der Wolf, den wir füttern, der gewinnen wird.
Als Buddhist vertritt Ricard die allumfassende Nächstenliebe als das zu erreichende Ziel, gibt dann aber auch anderen Formen des Altruismus großen Raum wie zum Beispiel den wechselseitigen Altruismus: „Eine faire und langfristige Gegenseitigkeit ist ein wesentlicher Bestandteil menschlicher Gemeinschaft“
In einer enormen Fleißarbeit hat Ricard wissenschaftliche Quellen ausgewertet, verwendet aber auch seine eigenen Erfahrungen und Alltagsgeschichten, die seine Beweisführung illustrieren. Als ob das nicht Aufgabe genug wäre, widmet sich Ricard dann dem Thema, wie Altruismus geübt werden kann (durch Meditation) und welche egoistischen Kräfte gegen das Ausleben der Nächstenliebe kämpfen.
Dabei bemüht er sich auch zu ergründen, wie es dazu kommen konnte, dass Egoismus zur einzigen und wahren menschlichen Antriebsquelle hochstilisiert werden konnte. Von da aus ist der Schritt zu Hass und Gewalt nicht mehr groß: „Je mehr sich Menschen der Gewalt hingeben, desto unsensibler werden sie für das Leid des anderen, wie wir gesehen haben. Ihre Empathiefähigkeit nimmt immer mehr ab, bis sie schließlich ganz verschwindet.“
Zum Abschluss geht Ricard darauf ein, wie wir eine altruistische Gesellschaft aufbauen können, spätestens an dieser Stelle verlässt er die wissenschaftliche Methodik und geht auf verschiedene Themen ein, die ihm wichtig zu sein scheinen, die wohl auch wichtig sind, die Auswahl und Zusammenstellung dem Leser aber nicht transparent gemacht wird. Einschließlich der Anmerkungen erreicht das Buch über 900 Seiten. Es sei dem Leser empfohlen, sich aus der zweiten Hälfte des Buches einzelne Kapitel auszuwählen, jedes Kapitel für sich ist anregend mit viel Substanz.
Matthieu Ricard leistet mit seinem Buch einen wichtigen Beitrag, wie wir an den Herausforderungen unserer Zeit arbeiten können, die soziale Orientierung und Nächstenliebe kommen in unserem Leben zu kurz und müssen unbedingt „gefüttert“ werden.
Michael Freiberg
Allumfassende Nächstenliebe. Altruismus – die Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit. Edition Blumenau 2016, 914 Seiten