Ein Beitrag von Matthieu Ricard
Ein wesentliches Merkmal von Menschen ist, dass sie kooperieren – und zwar nicht nur mit Verwandten, sondern auch mit Fremden. Matthieu Ricard setzt dem in unserer Gesellschaft verbreiteten Konkurrenzdenken die Kraft des Altruismus entgegen.
Kooperation, so schrieb Martin Nowak, ist “die Architektin der Kreativität in der Evolution: bei der Entwicklung von Zellen zu mehrzelligen Wesen, zu Ameisenhaufen, zu Dörfern und Städten. Ohne Kooperation gäbe es in der Geschichte der Evolution weder Bauwerke noch Komplexität.” (Nowak, M., & Highfield, R. SuperCooperators. Free Press 2011)
Heute müssen wir die nächste Ebene der Kooperation beschreiten, um mit den vielen Herausforderungen unserer Zeit fertig zu werden. Jede dieser Herausforderungen besitzt eine gewisse Dringlichkeit und Priorität. Eine der größten Schwierigkeiten besteht darin, folgende drei unterschiedliche Anliegen miteinander zu vereinbaren: die Wirtschaft mit ihren kurzfristigen Bedürfnissen, die Lebenszufriedenheit aus einer mittelfristigen und die Umwelt aus einer langfristigen Perspektive.
Die Wirtschafts- und Finanzwelt durchläuft immer rasantere Veränderungen. Wenn wir hingegen über die Lebenszufriedenheit nachdenken, so beziehen wir sie auf eine längere Zeitspanne: auf die Dauer eines Lebens, einer beruflichen Laufbahn, auf das Bestehen einer Familie oder einer Generation. Nehmen wir die Umwelt ins Blickfeld, so lassen sich Entwicklungen über Jahrtausende und ganze Zeitalter hinweg messen; heute allerdings sind hier Veränderungen viel rascher sichtbar.
Allerdings sollten wir den Gedanken nicht aufgeben, diese drei Zeithorizonte miteinander zu vereinbaren. Altruismus kann sie wie ein roter Faden miteinander verbinden und ihre unterschiedlichen Erfordernisse in Einklang bringen. Altruismus ist nicht nur ein nobles, etwas naives Ideal. Heute ist er, mehr denn je, eine Notwendigkeit.
Mehr an andere denken
Wenn wir mehr an andere denken, verschwenden wir die wertvollen Errungenschaften, die andere uns anvertraut haben, nicht mehr für wilde, egoistische Spekulationen.
Wenn wir mehr an andere denken, wird uns wichtig, wie die Lebensqualität unserer Mitmenschen ist, und wir tun etwas dafür, dass sie sich verbessert.
Wenn wir schließlich mehr an zukünftige Generationen denken, opfern wir die Welt, die wir unseren Nachfahren übergeben, nicht blind für unsere kurzfristigen Bedürfnisse und Wünsche.
Somit ist Altruismus der Schlüssel für unser Überleben und der entscheidende Faktor für die Qualität unserer heutigen und zukünftigen Existenzen. Es ist wichtig, dass wir dies erkennen und verstehen und dass wir den Mut besitzen, es auszusprechen.
Im Wesentlichen ist Altruismus ein wohlwollender Geisteszustand. Er ist dadurch gekennzeichnet, dass uns das Schicksal all unserer Mitmenschen am Herzen liegt und dass wir ihnen Gutes wünschen. Verstärkt wird diese Haltung, indem wir den Entschluss fassen, uns für das Wohlergehen der anderen auch praktisch einzusetzen.
Die Wertschätzung gegenüber anderen ist der wichtigste Geisteszustand, der zu Altruismus führt. Wenn dies unsere „Standard-Einstellung“ ist, zeigt sie sich in unserem Wohlwollen gegenüber allen, denen wir begegnen, und darin, dass wir uns jederzeit bereitwillig und gerne für sie einsetzen.
Wenn wir spüren, dass andere etwas brauchen, entwickeln wir sofort Anteilnahme und den Wunsch, ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Wenn jemand sich wünscht, glücklich zu sein, helfen uns Wertschätzung und Wohlwollen, diesen Wunsch in die Realität umzusetzen. Wenn es um leidvolle Zustände anderer geht, unterstützt uns unser Mitgefühl dabei, das Leiden und seine Ursachen zu beseitigen.
Den Kreis der altruistischen Haltung erweitern
In der Psychologie, Wirtschaft und Evolutionsforschung ging man lange davon aus, dass der Mensch grundlegend egoistisch sei. In den letzten zwanzig Jahren jedoch haben neue Erkenntnisse gezeigt, dass Altruismus weit über unser familiäres Umfeld hinaus ausgedehnt werden kann. Er ist zudem mit der Fähigkeit verbunden, in globalen Zusammenhängen zu denken und uns für unsere Mitmenschen und Tiere verantwortlich zu fühlen.
Daniel Batson, einer der herausragenden Altruismusforscher unserer Zeit, ist der Auffassung, bei Altruismus handle es sich eher um einen Geisteszustand, der sich auf eine Motivation bezieht, als um eine dauerhafte Disposition. Dennoch scheint es angemessen, auch von einer altruistischen oder egoistischen Disposition zu sprechen, je nachdem welche geistige Haltung in einer Person normalerweise vorherrscht. Natürlich können alle Abstufungen von leichtem Altruismus bis hin zu blindem Egoismus beobachtet werden.
Solche innere Dispositionen scheinen Hand in Hand zu gehen mit einer bestimmten Sicht auf die Welt. Die Politikwissenschaftlerin Kristen Monroe sagt: „Altruisten sehen die Dinge einfach anders. Wer uns als Fremder erscheint, ist für den Altruisten ein Mitmensch.” (Kristen Monroe, The Heart of Altruism, op.cit., S. 3)
Was Individuen betrifft, hat die Zusammenarbeit zwischen Neurowissenschaftlern und Meditierenden ergeben, dass Altruismus und Mitgefühl Eigenschaften sind, die durch Übung kultiviert werden können. Ihre Studien belegen ebenfalls, dass es Unterschiede gibt zwischen Empathie (der Fähigkeit, die Gefühle anderer mit zu empfinden), liebevoller Zuneigung (dem Wunsch, andere mögen glücklich sein) und Mitgefühl (dem Wunsch, sie mögen frei von Leiden sein).
Auch auf gesellschaftlicher Ebene hat die Forschung im Bereich der Evolution der Kulturen gezeigt, dass kulturelle menschliche Werte schneller veränderbar sind als unsere Gene und zu tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen führen können.
Wie können wir einen Kulturwandel erreichen, der zu mehr Altruismus und Mitgefühl in unserer Gesellschaft führt? Zunächst müssen wir die Bedeutung des Altruismus erkennen. Dann müssen wir ihn auf persönlicher Ebene entwickeln und ausgehend davon kulturelle Veränderungen herbeiführen. Kulturen und Individuen formen sich gegenseitig, so wie zwei Messerklingen einander schärfen können.
Matthieu Ricard, aus dem Englischen übersetzt von Barbara Marx
Dr. Matthieu Ricard ist promovierter Molekularbiologe und seit 1979 buddhistischer Mönch. Als langjähriger Meditierender wirkt er an Studien zur Erforschung von Meditation mit
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Er ist Autor zahlreicher Bücher, u.a. “Glück” (Knaur 2009) und “Meditation” (nymphenburger 2008). Im März erscheint in Deutschland sein Buch “Plädoyer für Tiere”.