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Am Anfang war das „Dings“

sol-b / photocase.de
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Über die Demenz meines Vaters

Wir müssen reden, meint unser Autor. Reden darüber, wie wir als Gesellschaft damit umgehen wollen, dass schon heute jeder Zehnte über 65 von Demenz betroffen ist. Was ist uns die Pflege wert, und wie wollen wir das Ende unseres Lebens gestalten? Deshalb hat er die Geschichte seines an Alzheimer erkrankten Vaters aufgeschrieben.

 

Am Anfang war das „Dings“. Das „Dings“ begann vor etwa fünf Jahren immer mehr Begriffe zu ersetzen, mit denen sich mein Vater ein Leben lang wortgewaltig ausgedrückt hatte. Dann kam die Geschichte mit dem Kreisverkehr. „Manchmal habe ich das Gefühl, er fährt in den Kreisverkehr und weiß dann nicht mehr, wie es weitergeht“, so meine Mutter besorgt. Da spürte ich es zum ersten Mal, dieses bedrückende Gefühl in meinem Bauch. Bitte, lass es nicht Alzheimer sein! Das Stoßgebet verhallte ungehört. Es war Alzheimer.

„Freunden sie sich mit dem Wort an“, so der Arzt in der Gedächtnisambulanz einer großen Universitätsklinik rund ein Jahr später. Ich erinnere mich noch gut daran, wie stolz mein Vater dessen Bitte nach Aufstehen, Hinsetzen, die Uhr lesen, erfüllte. Nicht ahnend, dass das zuvor erstellte MRT dem Mediziner mehr erzählt hatte, als er es je in der kurzen Zeit vermocht hätte.

Am Ende der Visite dann der größte Klops: das Autofahren. Mein Vater berichtete dem Arzt empört, dass seine Frau ihn gebeten habe, nicht mehr zu fahren. Der Neurologe, in einfühlsamer Kommunikation erfahren, versuchte zu vermitteln. Wenn seine Frau sich das wünsche, geschehe das nur aus Sorge, dass etwas passieren könne. Ob er ihr denn nicht vertraue? Mein Vater willigte schließlich ein, sich künftig nicht mehr selbst ans Steuer zu setzen.

Doch schon am Abend hatte er das Gespräch beim Arzt vergessen und pochte darauf, Auto zu fahren. Es tat so weh, diese starke Persönlichkeit verblassen und doch auch sich stärker konturieren zu sehen. Wir kümmerten uns nun um Betreuungsvollmachten und all diese Dinge. Mein Vater schien erleichtert, alles auf dem neuesten Stand und unterschrieben zu wissen. Wieder ein Stück vom Gärtchen des Lebens bestellt.

Zeitraubende Suche nach Schlüsseln und Papieren

Die Partnerschaft meiner Eltern veränderte sich. Ungewöhnlich war sie immer. Mein selbstbewusster, aber praktisch unbegabter Vater und meine Mutter, die in ihrem ganzen Leben stets ihre Frau stand. Jetzt hat sie nicht nur ihren Gefährten verloren, sondern ein nervenzehrendes Kind dazu bekommen, dass sich beständig zurückentwickelt.

Ich bin dankbar dafür, dass wir in den letzten Jahren nie aufgehört haben zu reden und zu lachen. Vor genau zwei Jahren, im September 2016, der letzte Urlaub auf Föhr. Doch vor der Abreise wieder die vermaledeite „Schlüsselfrage“. Längst schon war Suchen und Finden eine zeitraubende Beschäftigung im Alltag gewonnen.

Es war, als würde mein Vater versuchen, mit seinen wichtigsten Dingen auch seinen Geist zusammenhalten. Schlüssel, Geld, Ausweis, alles musste stets dabei sein und wurde immer wieder verloren. Oft wusste er gar nicht, was er suchte, die Wortfindungsstörungen waren massiv geworden. Gut, wenn es gelang, ihn abzulenken, so dass er die ganze Suche vergaß. Die Verzweiflung hinter allem, war schier mit Händen zu greifen.

An jenem Abend bestand er darauf, all seine Habseligkeiten mitzunehmen. Meine Mutter war verzweifelt. Es kam zum Streit, in dem ich zu vermitteln versuchte. Am Ende schälte sich heraus, dass es meinem Vater nur auf den Hausschlüssel ankam. Den Schlüssel zum Heim, das er mit meiner Mutter gekauft und umgebaut hatte. Nur das war wirklich wichtig. Er willigte schließlich ein, den Schlüssel dazu an einem kleinen Ring in seinem Rucksack festzumachen und dort zu lassen.

Auf Föhr angekommen, war das Thema vergessen. Nicht vergessen hatte er jedoch all die Ecken und Enden der Insel, die er vor Jahren bei Urlauben erkundet hatte. Wir fuhren Rad, gingen spazieren, aßen in Restaurants – und mein Vater erinnerte sich an alles. Kein einziges Mal drohte er verloren zu gehen. Dazu kam eine schier umwerfende Fitness. Der Bewegungsdrang, der ja zur Krankheit oft dazugehört, fand seine aktiven Kanäle und ihn auszuleben tat ihm sichtlich gut. Nahezu unbeschwerte zwei Wochen wurden uns geschenkt.

Die erschöpfte Mutter

Das Leben daheim begann indes stetig schwieriger zu werden. An Unterstützung von seiner Seite war nicht mehr zu denken, egal ob bei Gartenarbeit, Tischdecken oder Einkaufen. Stattdessen brauchten die Endlosschleifen der Erzählungen mehr und mehr Raum. Ich begann, meine Mutter und ihre Engelsgeduld zu bewundern und fühlte mich hilflos, wenn die Erschöpfung sich Bahn brach. Eine Selbsthilfegruppe von Angehörigen Demenzkranker brachte Unterstützung. Das Mitteilen des Schicksals brachte ein Teilen des Leids und wichtige Erkenntnisse.

Natürlich war immer wieder das Thema Unterbringung im Heim und das damit verbundene Gefühl des Abschiebens auf der Tagesordnung. „Man sollte den Schritt tun, bevor man den Angehörigen hasst“, sagte die Leiterin der Gruppe. Ein Satz, den niemand von uns je vergessen wird, auch wenn das alles noch ewig entfernt schien.

Selbst an eine Tagespflege wollten wir noch nicht denken. Mein Papa, der sein ganzes Leben diskutiert, provoziert, politisiert hatte, zusammen mit anderen beim Basteln oder Lieder singen? Unvorstellbar! Aber nach und nach gab es Unterstützung ein. Die Nachbarschaftshilfe, die mal bei der Grundreinigung des Hauses oder der Pflege des Gartens half, oder der freundliche Herr, der zwei Mal die Woche mit meinem Vater stundenlang Rad fuhr.

Momente klarer Wachheit

Die Radtouren waren auch meine vielleicht schönsten Stunden mit ihm. Oft die gleiche Route rund um das Dorf, mit denselben Haltepunkten und ähnlich lautenden Bemerkungen, aber alle Sinne geöffnet. Ich unkte mitunter, dass ich niemanden kennen würde, der sich so im Hier und Jetzt befinde wie mein Vater. Und tatsächlich, seine Sinne schienen geschärft: Er hörte wie ein Luchs, nahm die kleinste Kleinigkeit war, als wollten Augen und Ohren die Aufgaben des schrumpfenden Gehirns übernehmen.

Ähnlich war es mit den Unterhaltungen. Die über sachliche Probleme waren kaum noch zu führen. Aber wenn ich erzählte, was mich emotional gerade umtrieb oder mir Angst machte, dann spürte ich, dass das alte Band noch trug. Dann antwortete er Dinge, die voll und ganz stimmig waren, von einer tiefen, klaren Wahrheit. Und er begann sich zu freuen wie ein kleines Kind über eine hübsche Blume, einen Welpen, den Wind im Gesicht.

Seine Geschichten wurden derweilen kruder, die Wortwahl eingeschränkter und wirrer. Spürbar war indes, dass zwei Punkte immer öfter umkreist wurden: der Anfang und das Ende. Da war einmal die Erinnerung an die frühe frühen Kindheit, vor allem das letzte Treffen mit seinem später im Krieg verschollenen Vater, der ihm wohl dabei eine fürchterliche Ohrfeige verpasst hat, und die Eifersucht auf seinen zehn Jahre jüngeren Bruder. Aber auch der Blick auf sein eigenes Lebensende

Im Sommer 2017 machten meine Eltern und ich eine Tour zu Friedwäldern der Region – eine Sternstunde unseres Familienlebens. So friedlich waren wir selten an einem Ort zusammen gewesen. Und danach stand fest: ein Familien- und Freundesbaum sollte die Grabstätte meines Vaters sein, unter der er in einer kompostierbaren Urne bestattet werden wollte. „Gut, dass das geklärt ist“, seufzte er eines Abends zufrieden.

Wo ist die Grenze?

Derweilen wurde das Leben meiner Mutter immer angespannter. Die kleinen Katastrophen häuften, die Tagespflege entpuppte sich als Segen. Anders als befürchtet, freute sich mein Vater jeden Tag aufs Abholen ins Heim. Kein einziges Mal konnte er abends erzählen, was er tagsüber gemacht hatte, aber er wirkte ausgeglichen und zufrieden.

Doch die Krankheit war auf dem Vormarsch. Er fiel häufiger hin, stürzte und verletzte sich. An Radfahren war nicht mehr zu denken. Kopf und Körper wirkten nicht mehr zusammen. Wann ist die Grenze erreicht? Diese Frage stellen sich Angehörige von Demenzkranken wohl immer. Für viele ist es der Tod. Sie sind entschlossen, auszuhalten bis zum bitteren Ende, mit Hilfe von Pflegediensten oder Hilfskräften aus anderen Ländern.

Wir hatten als Grenze die Nachtruhe meiner Mutter markiert. „Wenn ich mal nicht mehr schlafen kann, dann wird es nicht mehr gehen“, das sagte sie, als ich ihr einmal wieder versicherte hatte, dass ihr Leben genauso viel gelte wie das ihres Mannes.

Die Nachtunruhe meines Vaters, vielmehr aber noch die fortschreitende Inkontinenz und die bis zum Zerreißen angespannten Nerven meiner Mutter führten schließlich dazu, dass wir einen einwöchigen Urlaub zu zweit und eine Kurzzeitpflege ins Auge fassten. Wir hatten uns etliche angeschaut, mit Heimleitern gesprochen, ein Gespür für Qualität entwickelt. Wir glaubten uns gut vorbereitet.

Meine Mutter besuchte das Heim mit meinem Vater, wir sprachen mit ihm, erklärten ihm das Ganze. Im Heim wurde er liebevoll in Empfang genommen und im Haus herumgeführt. Doch kaum waren wir wieder zu Hause, sahen wir, dass Mobiltelefone und Festnetz heiß gelaufen waren und blinkten. Das Heim! Mein Vater war völlig panisch durchgedreht, hatte randaliert, eine Schwester bedroht. Sie mussten die Polizei holen und dann den Krankenwagen. Er sei bereits auf dem Weg in Richtung Psychiatrie, so hieß es.

Zwangseinweisung per Gerichtsbeschluss

Wie konnte das geschehen? Selten ist das Phänomen wohl nicht bei Demenzkranken und Pflegebedürftigen. Wie ein panisches Tier, das nichts mehr versteht und um sein Leben kämpft, so stellte ich mir die Lage meines Vaters vor. Und dann chemisch ruhiggestellt.

Die Besuche in der Psychiatrie waren widersprüchlich. Nichts von den Alpträumen früherer Zeiten. Dafür beschauliche Krankenhausatmosphäre in einem wunderschönen Park. Aber der eigene Vater in einer Art blauer Strampelanzug aus Waffelpikee, ohne Gebiss und Brille, ein Angsttraum ganz eigener Art.

Dann nach drei Wochen die Entlassung: Zu Aggressionen war es nicht mehr gekommen. Aber zum allerersten Mal hatte ich das Gefühl, dass die Krankheit ihn voll und ganz ergriffen hatte. Mein Vater erkannte meine Mutter, freute sich wie ein Schneekönig über unsere Anwesenheit. Aber unsere Namen hätte er nicht mehr sagen können. Ein Richter verfügte die Zwangseinweisung in die Psychiatrie und wir mussten ein neues, ein geschlossenes Heim suchen.

Es war erschreckend, den Niedergang dieses einst so starken Mannes zu sehen. Die Psychopharmaka (Antidepressiva und Neuroleptika) nahmen mit der ganzen Palette ihrer Nebenwirkungen Besitz von ihm. Er konnte nicht mehr aufstehen, nicht mehr alleine essen, vegetierte zeitweise vor sich hin.

Gemeinsam mit dem Hausarzt und mit Hilfe umfangreicher Recherche ist es zwischenzeitlich gelungen, die schweren Psychopharmaka auszuschleichen, so dass vor allem die Parkinsonartigen Nebenwirkungen verschwunden sind. Mein Vater gleicht sich wieder mehr selbst.

Doch längst schon sind wir in einer Phase, wo es keine guten Lösungen mehr gibt, sondern nur noch schlechte und weniger schlechte. Die Pflegenden im Heim, wo er jetzt lebt, sind bemüht und geben ihr Bestes. Aber sie wechseln viel zu oft und zu schnell. Es entspannt ein bisschen, ihn in professionellen Händen zu wissen. Um so mehr erschreckt es, wenn dann Fehler passieren. Der Pflegenotstand ist für uns mit Händen zu greifen.

Wir brauchen eine gesellschaftliche Debatte

Noch ist die Geschichte nicht zu Ende. Es wäre gelogen zu behaupten, dass ich keine Angst davor habe, was noch kommt. Demenz oder Alzheimer sind keine Krankheit zum Tode. Aber das, was die Kranken am Ende sterben lässt, klingt nicht nach sanftem Tod. Früher hätte ich gesagt, bei dieser Diagnose gäbe es für mich nur noch ein Ziel: ein selbstorganisiertes Ableben wie bei Gunter Sachs, der sich erschoss. Heute bin ich mir unsicher.

Mein Herzenswusch ist, dass wir darüber reden. Dass jeder nachdenkt, was er sich wünschen würde, wenn er in diese Lage geriete. Dass wir uns als Gesellschaft überlegen, wie wir mit Demenzerkrankten umgehen. Warum wir die Pflege über ein sehr mäßig funktionierendes Versicherungssystem organisieren und nicht einfach über den Staatshaushalt wie in anderen Ländern.

Kindergärten und Pflege im Alter sollten nicht vom Geldbeutel abhängig sein. Demente Menschen sollten nicht mit Psychopharmaka ruhiggestellt werden müssen, weil es zu wenig Pflegekräfte gibt. Die Würde des Menschen gilt bis zum letzten Atemzug. Doch dafür müssen wir kämpfen. Wer, wenn nicht wir. Wann, wenn nicht jetzt.

Der Autor möchte mit Rücksicht auf den Vater und die Familie anonym bleiben, freut sich aber über Zuschriften. Bitte mailen Sie an die Redaktion: redaktion@ethik-heute.org
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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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