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Antisemitische Vorfälle nehmen zu

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Die Lage in 2019

Antisemitismus in Worten und Taten bedroht mittlerweile Juden in Deutschland. Laut Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus häufen sich die Vorfälle, Behörden registrieren mehr Straftaten als 2018. Der schreckliche Anschlag in Halle vom 9. Oktober 2019 ist eine neue Eskalation rechtsextremer Gewalt. Jetzt gilt es, Antisemitismus nicht zu bagatellisieren und in allen Formen zu ächten.

Am 9. Oktober 2019 wurden bei einem Anschlag vor der Synagoge in Halle zwei Menschen getötet. Anlässlich eines jüdischen Feiertags hatten sich hier Jüdinnen und Juden zum Gebet versammelt; die Angreifer hatten versucht, in das Gebetshaus einzudringen. Man muss von einer neuen Eskalation rechtsextremer Gewalt sprechen.

Antisemitismus ist in Deutschland zu einer wachsenden Bedrohung geworden. Die Zahlen gemeldeter Vorfälle sind angesichts der Dunkelziffern nur die Spitze des Eisbergs. Die Polizei registrierte für 2018 bundesweit 1646 Fälle antisemitischer Straftaten. Im Jahr davor waren es noch 1504 gewesen. Es sind in der Mehrzahl Fälle wie diese: Ende Juli 2019 wurde der Rabbiner Yehuda Teichtal in Berlin Opfer einer antisemitischen Attacke. Nachdem er mit seinem Kind aus der Synagoge kam, wurde er bepöbelt und bespuckt. In Chemnitz attackierten Neonazis 2018 bei den Ausschreitungen in der Stadt das jüdische Restaurant „Shalom“ und hetzten gegen Juden.

Was überdurchschnittlich zunimmt ist die Zahl der Fälle von Angriffen und Bedrohungen mit besonderem Gefährdungspotential für die Betroffenen. Für Berlin und Bayern sammelt die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) die Zahlen. In Berlin sind die Vorfälle zwischen 2017 und 2018 um 14 Prozent angestiegen. In Bayern führt die Stelle erst seit April 2019 eine Statistik, innerhalb von zwei Monaten gab es in ganz Bayern 39 Fälle von antisemitischen Übergriffen.

Zwei wesentliche Punkte gilt es aus der Statistik festzuhalten: Zum einen ist der Anteil der Taten, die eindeutig einen islamistischen Hintergrund tragen, klein; sie liegt für Berlin bei zwei Prozent. Die Bedenken, dass die Zuwanderung aus dem arabischen Raum diesen Zahlen befördert, sind damit unerheblich. Die Mehrzahl der Taten (49 Prozent) ist keinem politischen Hintergrund zuzuordnen. Ein Teil ist eindeutig rechtsextrem (18 Prozent) oder rechtspopulistisch (5 Prozent). (1)

Zum anderen belegen die Zahlen die Sorge, die der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, im Mai 2019 zum Ausdruck brachte. Er riet Juden in Deutschland, nicht überall ihre Kippa (jüdische Kopfbedeckung) zu tragen. Als Grund nannte er den Zeitungen der Funke-Mediengruppe die zunehmende gesellschaftliche Enthemmung und Verrohung, die einen Nährboden für Antisemitismus darstelle.

Erst Worte, dann Taten

RIAS Projektleiter in Berlin, Benjamin Steinitz, drückt es im „Report Antisemitismus“ so aus: „Wir stellen im Vergleich zu den vergangenen Jahren eine zunehmende Bereitschaft fest, antisemitische Aussagen mit konkreten Gewaltandrohungen zu verbinden oder ihnen gar Gewalt folgen zu lassen. Diese Verrohung geschieht jedoch nicht im luftleeren Raum, sondern auch im Kontext wachsender Zahlen niedrigschwelliger Formen von Antisemitismus, der den Alltag von Betroffenen prägt.“

Und noch etwas prägt das Bild. Der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Abraham Lehrer, nannte es „sekundären Antisemitismus“. Damit meinte er den abnehmenden Respekt der Mehrheitsgesellschaft für Juden. Er kritisierte bei „Zeit Online“ die „Schuld- und Erinnerungsabwehr“, die sich unter anderem in der Kritik am angeblich übertriebenem Holocaustgedenken zeige.

Dazu komme der Hass auf Israel: Der Anteil antisemitischer Vorfälle, die eindeutig israelfeindlich sind, liegt in Berlin bei neun Prozent. Abraham Lehrer hat dazu bei Zeit Online eine eindeutige Meinung geäußert: „In unserem Land darf es wirklich nicht so weit kommen, dass sich Juden von Israel distanzieren müssen, um von dieser Gesellschaft akzeptiert zu werden“. (2)

Der Alltag für Jüdinnen und Juden in Deutschland hat sich verändert. Für viele ist er von Angst vor Bedrohung und Diskriminierung geprägt, vor allem, wenn sie als Juden erkennbar sind. Viele verzichten inzwischen konsequent auf das Tragen jüdischer Symbole und Kleidungsstücke. Das ist kein normaler Anpassungsprozess, sondern ein erzwungener, den viele als einschränkend und schmerzhaft empfinden: Den entsprechenden Situationen auszuweichen und die öffentliche Auseinandersetzung zu scheuen, ist eine der gewählten Strategien. Aus Sorge vor Diskriminierungen gibt man sein Kind dann in eine jüdische Kita oder Schule.

Antisemitische Vorfälle nicht bagatellisieren

Tatsächlich sind Schulen einer der Brennpunkte antisemitischen Verhaltens. „Du Jude!“ gilt unter jungen Leuten vielerorts als normale Beschimpfung. Und gerade in den Bildungseinrichtungen scheint der Zahl der Dunkelziffer hoch zu sein. Viele Betroffene halten still. Sie fürchten Nachteile, wenn sie Vorfälle öffentlich machen. Denn nach einer Anzeige könnte es zu weiteren, gegebenenfalls schwerwiegenderen Diskriminierungen und Bedrohungen kommen.

RIAS berät in diesen Fällen mit dem Projekt Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR). Betroffene, die sich an die Einrichtung wenden, wollen zunächst einmal, dass antisemitische Vorfälle nicht bagatellisiert werden und klar als Antisemitismus benannt werden. Oft haben die Betroffenen im Kontakt mit Sozialarbeitern im schulischen Kontext genau das erlebt. Aussagen von Sozialarbeitern wie „Das war so sicherlich nicht gemeint“ oder „Nun sei doch nicht so empfindlich“ seien Alltag von Juden, die sich wehren, so der MBR-Berater Matthias Müller.

„Bei verbalen Diskriminierungen wünschen sich viele Betroffene aber eine authentische Entschuldigung und das glaubhafte Versprechen, dass solche Äußerungen nicht wieder vorkommen“, so Müller. Junge Juden erwarten, dass Pädagoginnen und Pädagogen einschreiten, wenn sie aufgrund ihres Jüdisch-Seins diskriminiert werden. Eltern betroffener Kinder fordern eine konsequente Sanktionierung der Täter, was in den meisten Fällen aber zunächst unterbleibt. Immer wieder werde gerade auch im schulischen Kontext relativiert. Eine der am meisten gebrauchten Aussagen: Man müsse sich aufgrund der politischen Situation in Israel doch nicht wundern, wenn Juden angegriffen würden.

Die große Herausforderung ist es, in einem breiten gesellschaftlichen Konsens Antisemitismus in allen Formen zu ächten. Denn anders als es beim Rechtsextremismus und Rassismus der Fall ist, wird Antisemitismus von unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Milieus unterstützt.

Matthias Müller schildert die Erfahrungen aus den MBR-Beratungen so: „Eine deutliche Positionierung gegen Antisemitismus – und zwar von antisemitischen Strömungen, die nicht von deutschen Rechtsextremisten ausgeht –, muss von der Zivilgesellschaft noch eingeübt werden.“

Stefan Ringstorff

(1) Aus dem Report Antisemitismus 2018 von der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin

(2) Artikel in Zeit online

 

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