Aufstand der jungen Generation

Ralf G. Wackenberg/ shutterstock.com
Ralf G. Wackenberg/ shutterstock.com

„Fridays for Future“ rüttelt auf

„Das Wunder der Freiheit liegt im Anfangen-Können beschlossen“, sagt Hannah Arendt. Die jungen Menschen, die sich heute politisch engagieren, zeigen, wie es geht, so der Philosoph Peter Vollbrecht. Er fordert, die Älteren den Widerstand gegen dringend notwendige Veränderungen aufgeben.

Kaum jemand hat sich so euphorisch über das politische Leben ausgesprochen wie Hannah Arendt. Der Sinn von Politik sei Freiheit, Punktum. Und Freiheit? „Das Wunder der Freiheit liegt im Anfangen-Können beschlossen“. Jeder Mensch könne eine Weltlinie beginnen, und deshalb dürfe man von der Politik Unerwartetes, Unwahrscheinliches, ja Wundervolles erwarten. Wie bitte – von der Politik?

Hannah Arendt dachte dabei weniger an die institutionalisierte Politik, weniger an die etablierten Politiker und Parteigänger als vielmehr an das urwüchsig Politische, das menschliche Leben nämlich. Immer wieder finden Neuankömmlinge dort hinein. Und irgendwann artikulieren sie sich als politische Akteure und beginnen eine neue Ära.

Generationenvertrag aufgekündigt

Ein solches Wunder entfaltet sich gerade vor unseren Augen, heute, im Jahr 2019, dreißig Jahre nach dem letzten großen Wunder, als die Bürger Osteuropas ihre Angst abschüttelten und ihre Regimes stürzten. Heute allerdings gehen die Impulse tatsächlich von den Neuankömmlingen aus, von Schülern und Studenten. Sie artikulieren nichts anderes als ein fundamentales Recht: das Recht auf Leben unter lebensfreundlichen Umweltbedingungen.

Keiner Generation zuvor wurde ein solches Recht abgestritten. Darauf gründet der Generationenvertrag jeder Gesellschaft: Die Älteren übergeben den Jüngeren eine Welt, in der es sich nicht schlechter leben lässt, die Jüngeren sorgen für einen entspannten Lebensabend ihrer Eltern. Die Demonstrierenden der ›Fridays for Future‹-Bewegung protestieren gegen die einseitige Aufkündigung dieses Generationenvertrages durch die Älteren.

In wenigen Monaten haben es die Schüler und Studenten geschafft, die etablierte Politik vor sich her zu treiben. Und die macht die denkbar schlechteste Figur. Humorlos und schmallippig schwingen die einen den Rohrstock: Schule schwänzen müsse bestraft werden. Sie sprechen den ‚Kindern‘ das Urteilsvermögen ab. Diffamieren das Recht auf Leben und Zukunft als ‚Klimahysterie‘ und delegiere die Lösung der Probleme an die nächste Großkonferenz.

Oder man raunt von phantastischen Technologien wie dem Brennstoffzellenflugzeug, der CO2-Einlagerung oder dem Geo-Engineering: Den Ingenieuren wird schon etwas einfallen. Das alles ist nicht falsch, aber es wirkt als Feigenblatt, es verstellt den Blick auf die Maßnahmen, die sofort anstehen müssen, denn es bleibt uns kaum noch Zeit.

Umweltpolitik ja bitte, aber kostenneutral. Fiskalisch soll alles so bleiben, wie es ist. Die Demonstranten von heute sind die Steuerzahler von morgen, und spätestens dann werden sie, so das offenherzig-zynische Kalkül mancher Politiker, die Zwänge der Buchhaltung verstehen. Das mag sein, aber es übersieht ebenjenen Posten, auf den Hannah Arendt setzt: Stets pulsiert frisches Blut in den Arterien gesellschaftlicher Kreisläufe. Schüler und Studenten wird es solange geben, wie Menschen sich dazu entschließen, für Nachwuchs zu sorgen. Der Ruf nach einer ökologischen Aktualisierung des Generationenvertrages lässt sich nicht einfach aussitzen.

Reden statt Handeln

Zwischen Reden und Handeln hat sich in den letzten Jahrzehnten eine Lücke der Glaubwürdigkeit geöffnet. Sie hat sich zu einer eiternden Wunde entzündet, und über alle falschen Worte finden weitere Bakterien ihren Zugang zum infizierten Zellgewebe der Gesellschaft. Dort wuchert ein ideologisches Geschwür, das stark in Worthülsen auftritt, um möglichst schwach zu handeln.

Es braucht ein Argument in neuer Qualität sowie eine kritische Masse derjenigen, die es artikulieren, um die eingespielten Diskursstrukturen einer gesellschaftlichen Praxis aufzubrechen. Die ›Fridays for Future‹-Bewegung hat beides erreicht. Das Argument ist schlicht und einfach: Es geht darum, den Jungen ihre Zukunft nicht zu rauben.

Der Weg zur kritischen Masse war länger, er begann am 20. August 2018 mit der einsamen Mahnwache der Greta Thunberg vor dem Schwedischen Reichstag. Bekannt sind alle Versuche seitens der Politik, aber auch mancher Medien, die Integrität der 16-Jährigen Schwedin und mit ihr die anschwellenden Schülerproteste zu diskreditieren, die zunächst in Australien und Belgien begannen und von dort aus auf viele andere Länder übersprang.

Eine neue Ernsthaftigkeit nimmt ihren Weg in den politischen Diskurs. Mit beeindruckender Energie organisiert eine mit den sozialen Netzwerken vertraute Generation eine Bewegung. Neue Gruppierungen wie ›Scientists for Future‹ und ›Parents for Future‹ schließen sich an. Die ‚alte‘ Diskursgesellschaft reibt sich verwundert die Augen: Wie ist es möglich, dass junge Menschen zwischen Pubertät und Adoleszenz plötzlich die Welt verändern können?

Lieb gewonnene Gewohnheiten müssen weg

Ebenso plötzlich sieht vieles anders aus: Da fragen sich Journalisten, ob sie nicht ihren journalistischen Auftrag verfehlten, als sie sich „mit den Geschichten abspeisen haben lassen, die ihnen die Politiker geliefert haben“ (so Marc Beise in der ZEIT vom 29. Mai 2019). Nicht selten haben die immergleichen, nach Parteienproporz ausgewählten Politgesichter in den Talkshows von Anne Will und Maybrit Illner die sachliche Auseinandersetzung torpediert mit ihren immergleichen ausgestanzten Parolen, mit denen sie sich gegenseitig ins Wort fallen.

Plötzlich sieht vieles anders aus: Man sieht den eigenen ökologischen Fußabdruck – ist eine Kreuzfahrt wirklich noch zu wollen? Der Fernflug in die Sonne aus dem wintergrauen Europa? Unsere Ernährungsgewohnheiten? Plötzlich sieht vieles anders aus: Von ökologischer Verantwortung wurde viel geredet, jetzt kommt es darauf an, sie auch zu wollen und zu übernehmen. Plötzlich sieht vieles anders aus: Ist die ökologische Ernsthaftigkeit der jungen Generation vielleicht die letzte Trumpfkarte der Zivilgesellschaft, die sie gegen eine Ökodiktatur ausspielen kann?

Taub geworden im Hedonismus

Wenn sie stechen könnte, diese Karte, dann wäre das ein grandioser Beleg für die Problemkompetenz einer freiheitlichen Zivilgesellschaft. In ihr würde die Wissenschaft nicht nur für technologische Innovationen gut sein, sondern auch für gesellschaftliche und kulturelle Expertisen. Der Jugendbewegung ist anzuraten, dass sie sich nicht vereinnahmen lässt von den Eliten der Gesellschaft. Dass sie ihre Beweggründe beharrlich vertritt und die korrumpierten Generationen vorführt. Dass sie auf Antworten pocht. Und wenn diese ausbleiben oder wenn wie bisher nur politisch verschwurbelte Attrappen als Antworten angeboten werden, dann sollte die Jugendbewegung ihr Vokabular verschärfen. Und wenn das alles nichts nützt, weil die Gesellschaft taub geworden ist in ihrem Hedonismus, dann bleibt ihr die ultima ratio: die Aufkündigung der Kooperation.

Spätestens dann zieht eine weitere neue Zeit herauf, die Zeit der Ökodiktatur. Bis dahin haben wir vielleicht noch ein oder zwei Jahrzehnte Zeit. Derzeit steht es günstig für die letzte Trumpfkarte der Zivilgesellschaft, denn in der Geschichte der Menschheit erfreute sich keine politische Bewegung so vieler Sympathien wie die jetzige Unruhe in der Jugend.

Peter Vollbrecht

Peter Vollbrecht, nach dem Studium der Philosophie und Literaturwissenschaft DAAD-Lektor an der University of Delhi. 1997 Gründung des ‚Philosophischen Forums Esslingen‘, seitdem philosophische Reisen in Europa und Südasien, Kooperation mit „Die Zeit“ seit 2006. 2017 erschien sein philosophischer Roman „Ich allein bin wirklich. Die Philosophie und das launige Leben“ bei Klöpfer&Meyer. Das philosophische Programm auf www.philosophisches-forum.de, philosophische Kolumnen auf www.philosophiekolumne.com

 

 

 

 

 

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Kommentare
Inline Feedbacks
Alle Kommentare

Aktuelle Termine

Online Abende

rund um spannende ethische Themen
mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen
Ca. 1 Mal pro Monat, kostenlos

Auch interessant

Ahmed/ Unsplash

Die Kraft des Utopischen

Ernst Blochs Philosophie der Hoffnung Hoffnung spielt im menschlichen Leben eine große Rolle. Doch die Philosophie entdeckte diese vitale Kraft erst mit Ernst Bloch. Peter Vollbrecht über das „Prinzip Hoffnung“ in der Philosophie Blochs, Sozialutopien und die Kunst des Tagträumens hin zu einer besseren Welt.
Foto: Piotr Rosolowski

„Glaube an Dich, auch am dunkelsten Ort“

Eine Ukrainerin überlebte russische Gefangenschaft Die Ukrainerin Olena Piekh wurde 2018 in ihrer Heimat Donbas entführt und in Gefangenschaft misshandelt. Sie kam frei und lebt heute in Deutschland. An einem öffentlichen Abend erzählte sie ihre Geschichte und wie Liebe und unbändige innere Stärke sie retteten.

Newsletter abonnieren

Sie erhalten Anregungen für die innere Entwicklung und gesellschaftliches Engagement. Wir informieren Sie auch über Veranstaltungen des Netzwerkes Ethik heute. Ca. 1 bis 2 Mal pro Monat.

Neueste Artikel

Getty Images/ Unsplash

Self-delusion – Why we need wisdom

Interview with Prof. Vervaeke (English) The human brain is susceptible to deception. Wisdom involves the ability to correct oneself again and again. Cognitive scientist John Vervaeke is convinced that we need a variety of wisdom practices for this. And: ‘Look for people who challenge you’. Because we can develop best in relationship with others.
Getty Images/ Unsplash

“Wir leiden unter Selbsttäuschung und brauchen Weisheit”

Interview mit Kognitionswissenschaftler Das menschliche Gehirn ist anfällig für Täuschungen. Weisheit beinhaltet die Fähigkeit, sich immer wieder selbst zu korrigieren. Dazu brauchen wir eine Vielzahl von Weisheitspraktiken, ist Professor John Vervaeke überzeugt. Und: „Suchen Sie Menschen, die Sie herausfordern“. Denn wir können uns am ehesten in Beziehung zu anderen weiterentwickeln.
Cover Nico Paech 2025

Zurück zur Selbstversorgung?

Aktualisiertes Buch des Postwachstumsforschers Nico Paech In der 2025 aktualisierten Neuauflage dieses Buches ruft der Wachstumskritiker Nico Paech dazu auf, die Wirtschafts- und Lebensweise zu transformieren. Denn die Ressourcen schwinden in rasantem Tempo. Es brauche regionale Selbstversorgung, mehr Zeit zum Reparieren, Gärtnern und mehr Genügsamkeit.
nimito/ Shutterstock

Schule als Ort gelebter Demokratie

Ein Standpunkt von Thomas Hohn Schulen sollen demokratische Teilhabe fördern, doch wie kann das gehen angesichts der Krise der Demokratie? Für Bildungsexperte Thomas Hohn sind Schulen Orte, an denen Polarisierung überwunden und Austausch ermöglicht werden kann.