Wie man eine gute Balance findet
Eltern, die ihren Kindern auf Augenhöhe begegnen wollen, tun sich manchmal schwer damit, Grenzen zu setzen. Die Pädagogin Inke Hummel ist überzeugt: Bedürfnisorientierte Erziehung bedeutet nicht, jeden Wunsch des Kindes zu erfüllen, sondern auch eigene Bedürfnisse zu formulieren. So lernen Kinder Rücksicht und ein gutes soziales Miteinander.
Wie funktioniert der Balanceakt der Bedürfnisorientierten Erziehung zwischen Zugewandtheit und dem Aufstellen von Leitplanken?
Eltern erziehen ihre Kinder heute häufig bewusster und zugewandter als noch die Generation davor. Statt „Erziehung“ wird auch oft eher „Begleitung“ gesagt, denn die Beziehung zwischen den Großen und den Kleinen ist enger, besser, gleichwertiger.
Aber dieser Weg birgt auch Missverständnisse und Fallstricke. Denn leicht wird im Tun vergessen, dass auch Eltern Bedürfnisse haben und dass Kinder nicht nur ein Bedürfnis nach Zuwendung, Harmonie oder auch Autonomie haben, sondern auch nach Orientierung. Und wie man die sinnvoll gibt, ist die entscheidende Frage.
Will man sein Kind gut im Blick haben und nicht übergehen, kann es leicht geschehen, dass zu wenig Orientierung gegeben wird. Ich nenne das „Zuwendung ohne Zumuten“ oder auch verwöhnend-überfürsorgliches Verhalten. Hier versuchen die Eltern sehr liebevoll mit ihrem Kind umzugehen und alle Hindernisse, schlechten Gefühle und Konflikte aus dem Weg zu räumen.
Es gibt keine Tyrannenkinder
Kritiker sprechen dann gern von „Helikoptereltern“, die „Tyrannenkinder“ großziehen – unsägliche, beleidigende Begriffe, die Aufmerksamkeit erregen, aber weder korrekt sind noch weiterhelfen. Denn die Eltern haben Gründe für ihr Verhalten.
Sie vertragen Konflikte nicht gut. Und sie sind unsicher, wie sie ihrem Kind zugewandt begegnen und ihm doch aufzeigen können, wo Grenzen sind, wo es auf andere Rücksicht nehmen oder sich mal durchbeißen muss.
Aus dieser Unsicherheit heraus entscheiden sie sich dafür, Bedürfnisse zu verleugnen. Sie verleugnen ihre eigenen Bedürfnisse, denn jedem Konflikt aus dem Weg zu gehen, kostet Ressourcen. Sie verleugnen aber auch die Bedürfnisse des Kindes, denn Kinder haben auch ein Bedürfnis danach, sich kompetent in der Welt zu bewegen. Lernen sie aber nicht, was andere Menschen brauchen, gelingt ihnen das soziale Miteinander nicht gut.
Um das unsichere Elterngefühl und ihr überfürsorgliches Verhalten zu verändern, brauchen sie keine Beschimpfungen gegen sich oder ihr Kind. Zumal der Begriff „Tyrann“ für ein Kind vollkommen unpassend ist.
Tyrannen sind reife, erwachsene Menschen, die aus Machtgier bewusst gegen die Bedürfnisse anderer Menschen handeln. Wenn man die einfachsten entwicklungspsychologischen Grundlagen über Kinder kennt, weiß man, dass Kinder keine Tyrannen sein können oder wollen. Ihnen fehlen kognitive Reifeschritte und sie hätten dadurch nachhaltig keine Bindungssicherheit. Es würde schlicht keinen Sinn machen.
Auch Rufe danach, auf den alten, autoritären Weg zurückzukehren, sind unsicheren Eltern keine Hilfe. Wir wissen inzwischen, dass der bedürfnisorientierte Mittelweg die höchste Wahrscheinlichkeit in sich birgt, dass Kinder sich auch psychisch gesund entwickeln.
Mit Wissen auf den bedürfnisorientierten Weg
Nein, verwöhnend-überfürsorgliche Eltern benötigen zwei andere Dinge: zum einen Wissen, zum anderen Handwerkszeug. Sie sollten lernen, dass es kein Grundbedürfnis von Kindern ist, nicht mit Mama oder Papa oder anderen in Konflikte zu geraten, sondern höchstens ein Wunsch, weil Harmonie gute Gefühle macht.
Dahinter steht das Bedürfnis nach Sicherheit. Doch diese können Kinder erlangen, wenn sie wissen, wie man lösungsorientiert in Konflikte geht und dass Beziehungen trotz Streitigkeiten Bestand haben.
Eltern dürfen auch lernen, was ihr Erziehungsstil bei ihrem Kind über die Zeit bewirkt:
- Sind sie überfürsorglich, kann es sein, dass ihr Kind bald wenig Anstrengungsbereitschaft oder auch Mitgefühl zeigt und eher konfliktscheu oder egozentrisch handelt.
- Sind sie zu autoritär, besteht die Gefahr, dass ihr Kind sich mittelfristig minderwertig fühlt, ängstlich oder auch aggressiv reagiert und selbst Probleme bekommt, Mitgefühl für andere zu zeigen.
- Sind sie eher abwesend und lassen den Kindern jeglichen Raum, kann es sein, dass ihr Kind sich rasch überfordert und alleingelassen fühlt sowie Defizite in der Problembewältigung und auch in Sachen Empathie zeigt.
In Eltern können durch solches Wissen das nötige Verständnis und die Motivation erzeugt werden, den bedürfnisorientierten Weg doch richtig anzupacken, obwohl er manchmal mit negativen Gefühlen, mit Anstrengungen verbunden ist und Energie kostet. Aber er kann eben auch eine „gute Ernte“ einfahren in Form von bewältigungskräftigen, respektvollen und beziehungsstarken Heranwachsenden.
Schlüsselsätze für Beziehung und Bedürfnisbeachtung
Das Handwerkszeug für diesen Weg des zugewandten Zumutens, der auf Bewältigungskompetenz, Zutrauen, mitfühlendes Fordern und Beziehung setzt, besteht aus sinnvoller Kommunikation, ermöglichtem Spielraum für das Kind, einem ihm angepassten Mix aus Nähe, Führung und Loslassen, Optimismus und auch guter Selbstfürsorge.
„Wir schaffen das gemeinsam“, „Du kannst mitentscheiden.“, „Ich traue dir etwas zu.“ und „Das Leben ist oft so gut, auch dank dir“ – mit diesen Sätzen und dieser inneren Haltung können Eltern ihrem Kind zugewandt und fordernd begegnen und ihm helfen, Herausforderungen anzupacken und dabei zu reifen.
„Was benötigst du von mir?“, „Wir sammeln, was jedem und jeder von uns wichtig ist.“, „Wir reden miteinander und alle haben eine Stimme.“, „Wie geht es den anderen, wenn du so handelst?“ – derlei Sätze und die innere Haltung, den Blick auf dieses Miteinander zu richten, helfen dabei, dass alle Bedürfnisse gesehen und berücksichtigt werden und sich jeder wertvoll und mitbestimmend fühlen kann.
„Was benötige ich?“, Was habe ich mitgebracht?“, „Was brauche ich jetzt für mich?“ – dieser Blick auf sich selbst ist unabdingbar und sollte eigentlich schon im Babyjahr für Eltern konkret werden, wenn sie sich mit Bedürfnisorientierung beschäftigen. Dann starten Eltern gleich besser in das Abenteuer Familie und zeigen ihren Kindern, dass alle wichtig sind: Kind, Eltern und die anderen Menschen.
Inke Hummel ist SPIEGEL-Bestseller-Autorin, Pädagogin und Inhaberin der Familienbegleitung „sAchtsam Hummel“. Als pädagogischer Coach unterstützt sie Familien im Babyjahr, in der Kindergarten- und Grundschulzeit und in der Pubertät. Im Netzwerk „Bindungs(t)räume“ setzt sie sich dafür ein, dass Eltern und Pädagog*innen die Bedürfnisse von Kindern besser verstehen. Zu ihrer Website
Bücher von Inke Hummel, alle erschienen im Humboldt Verlag:
Nicht zu streng, nicht zu eng. Dein sicherer Weg zwischen Schimpfen und falschem Verwöhnen”, Humboldt 2022.
Miteinander durch die Babyzeit, Humboldt 2022
„Miteinander durch die Grundschulzeit“ (humboldt, 2023)
„Miteinander durch die Pubertät“ (humboldt, 2020)