Ein Standpunkt von Matthieu Ricard
Bildung solle stärker menschliche Grundwerte vermitteln, ist der buddhistische Mönch Matthieu Ricard überzeugt. Nur wenn pro-soziales Verhalten gefördert würde, könne eine freundliche und tolerante Gesellschaft entstehen. Frauen käme eine Schlüsselrolle zu.
Wir Menschen haben als soziale Wesen seit frühester Kindheit eine stark ausgeprägte Neigung zu kooperieren und uns selbstlos zu Verhalten, auch wenn es im Menschen Kräfte gibt, die sie Gräueltaten begehen lassen. Die Forschung zeigt, dass Kinder bereits im Alter von einem Jahr, wenn sie gerade anfangen zu laufen und zu sprechen, spontan ein Verhalten der gegenseitigen Unterstützung und Zusammenarbeit zeigen, das sie nicht von Erwachsenen gelernt haben.
Dank dieser in uns angelegten Eigenschaft können Menschen einen positiven Beitrag zur Gesellschaft und zur Welt leisten. Es gilt, auch die “Banalität des Guten” anzuerkennen und zu fördern, also die Tatsache, dass sich die meisten der sieben Milliarden Menschen auf der Erde fast immer anständig zueinander verhalten.
Um ihr Potenzial für Nächstenliebe und Güte auszuschöpfen, müssen Menschen ihre Fähigkeit, Gutes zu tun, aber auch entwickeln können. Wie David Brooks einmal in einem Artikel „The Power of Altruism“ (Die Macht des Altruismus) in der New York Times schrieb:
“Wenn akademische Disziplinen und soziale Institutionen nur auf der Annahme von Egoismus gründen, übersehen wir die Motivationen, die die Menschen die meiste Zeit antreiben”. Anstatt Wettbewerb zu lehren und Erfolg zu fördern, sollten wir den Menschen beibringen, ihr Potenzial für selbstloses Verhalten zu entwickeln. Brooks meint: “Es ist an der Zeit, Institutionen aufzubauen, die die natürliche Sehnsucht der Menschen Gutes zu tun nutzen.”
Bildung kann nicht neutral sein
Gerade im Bildungssektor wäre es gut, wenn wir uns von eingefahrenen Theorien frei machten und uns unvoreingenommen grundlegende Fragen stellen wie: “Was erwarten wir denn wirklich von der Bildung?”
Bildung sollte Menschen nicht nur befähigen, Probleme zu lösen und ihren Verstand zu schärfen, sondern vor allem auch, gute Menschen zu sein. Durch qualitativ hochwertige Bildung kann man neue und bessere Wege finden, um dieses Ziel zu erreichen.
Das erfordert aber eine verstärkte Vermittlung menschlicher Grundwerte, die von allen akzeptiert werden, sowie Achtsamkeit sich selbst, anderen und der Natur gegenüber. Wer könnte etwas gegen Freundlichkeit, Freundschaft, Vertrauenswürdigkeit, Ehrlichkeit, Großzügigkeit, Mitgefühl, Authentizität und weitere entsprechende Eigenschaften haben?
Bildung kann ohnehin nicht neutral sein, da Kinder auf jeden Fall einige Werte selbständig erwerben. Man sollte daher ihr pro-soziales Verhalten fördern, anstatt sie nur dem Einfluss von gewaltfördernden Videospielen, Gier und ausuferndem Konsum zu überlassen.
Wenn wir sie dazu inspirieren können, Nächstenliebe zu entwickeln und mit anderen zusammenzuarbeiten, sind wir auf einem guten Weg zu einer mitfühlenderen, offenherzigeren und toleranteren Gesellschaft.
Frauen haben eine Schlüsselrolle
Frauen haben ein großes Potenzial, einen positiven Beitrag zu leisten, stehen aber vor vielen Herausforderungen, die ihre Potenziale hemmen. Häusliche Gewalt gegen Frauen ist in vielen Ländern nach wie vor verbreitet, auch wenn sie im Laufe der Jahre abgenommen hat. Das gleiche gilt für die Kinderehe, die der Gesundheit, Bildung und dem Wohlbefinden der Frauen schwer schadet.
Umgekehrt geht in Familien, in denen die Mütter auch nur ein Jahr lang eine Ausbildung absolviert haben, die Kindersterblichkeit signifikant zurück. Eine der vielen weiteren Herausforderungen, mit denen Frauen heute konfrontiert sind, ist die alleinige Verantwortung für die Bildung ihrer Kinder, was sie selbst, vor allem in ländlichen Gebieten, von Bildung und Berufsleben fernhält.
Der Dalai Lama sagt: “Frauen spielen eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung menschlicher Sensibilität, Mitgefühl und Gewaltlosigkeit, die in der heutigen Welt oft fehlen”. Um eine gerechtere und selbstlosere Gesellschaft zu fördern, müssen wir die Frauen dabei unterstützen, ihr Potenzial zu entfalten.
Sie brauchen Zugang zu Aus- und Weiterbildung sowie wirtschaftlichem Aufstieg, um so den Kreislauf der Armut durchbrechen zu können. Wenn Frauen ihr Potenzial entfalten, finden sie persönliche Erfüllung, entwickeln Selbstwertgefühl und tragen dann wesentlich zum Wandel auf familiärer, gemeinschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene bei.
“Wenn wir Menschen lehren, ihre guten Eigenschaften zu entwickeln, profitieren wir alle”
Wenn man Menschen dazu erzieht, ihrer natürlichen Neigung zu gegenseitiger Unterstützung und Hinwendung zu anderen zu folgen, führt das auf gemeinschaftlicher Ebene zu mehr Zusammenarbeit und Effektivität. In einer kooperativen Gesellschaft vertrauen sich die Menschen und sind bereit, Zeit und Ressourcen für andere aufzuwenden.
Durch den positiven Kreislauf von Solidarität und gegenseitiger Unterstützung werden harmonische Beziehungen aufrechterhalten. “Die einzige Chance für die Menschheit ist Kooperation”, sagte der Philosoph und Mathematiker Bertrand Russell.
Angesichts der Erderwärmung und der damit verbundenen Probleme, die zur größten Herausforderung für das 21. Jahrhundert geworden sind, müssen wir mehr denn je auf globaler Ebene zusammenarbeiten und Rücksicht sowohl auf künftige Generationen, aber auch auf die circa acht Millionen anderen Arten nehmen, die mit uns auf dieser Erde leben. Wir brauchen einen progressiven Lebensstil und sollten uns so verhalten, dass alle eine bessere Zukunft haben.
Bildung kann eine zentrale Rolle spielen, indem sie Menschen Kooperation und Mitgefühl vermittelt und ihnen hilft, ihr Potenzial auszuschöpfen. Wenn wir Menschen lehren, ihre an sich guten Eigenschaften zu entwickeln, profitieren wir alle.
Wie Aristophanes sagte: “Bildung bedeutet das Anzünden einer Flamme, nicht das Füllen eines Gefäßes.” Möge dies die Flamme der Kooperation und des Mitgefühls sein.
Aus dem Englischen übersetzt von Bettina Balbach.
Dr. Matthieu Ricard, 1946 in Frankreich geboren, ist promovierter Molekularbiologe. 1979 wurde er als buddhistischer Mönch ordiniert und lebt heute im Kloster Shechen in Nepal. Er ist Übersetzer des Dalai Lama und Autor zahlreicher Bücher. Er engagiert sich für Meditationsforschung in den Neurowissenschaftenen sowie den Dialog von kontemplativen Traditionen und modernen Wissenschaften.