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“Bin ich nicht selbst Blatt und Humus?”

givaga/ shutterstock.com
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Achtsam und verbunden mit der Natur

Jeder Appell, die Natur zu schützen und das Klima zu schonen, verhallt, wenn wir nicht die intensive Verbundenheit mit der Natur spüren, ist die Achtsamkeitslehrerin Christa Spannbauer überzeugt. Ein Vorbild ist für sie Henry David Thoreau, der eine Zeit im Wald lebte, um „alles Mark des Lebens aussaugen und so standhaft und spartanisch leben, um alles, was nicht Leben war, davonzujagen.“

„Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ Zu dieser Erkenntnis gelangte Albert Schweitzer in einem kleinen Kanu auf einem afrikanischen Fluss, als er von Nilpferden gefährlich bedrängt wurde. In der Begegnung mit den gereizten Tieren machte er offenbar eine Erfahrung, die Menschen häufig in Lebensgefahr machen: Sie erkennen die Kostbarkeit und den Wert des eigenen Lebens um vieles intensiver als zuvor.

Bei Albert Schweitzer führte dieses Erlebnis jedoch noch über die Wertschätzung des eigenen Lebens hinaus und zur Hinwendung und zur Ehrfurcht vor dem, was ihn bedroht hatte. Er machte eine tiefe Erfahrung der Verbundenheit mit der natürlichen und kreatürlichen Welt. In seiner Lehre von der Ehrfurcht vor dem Leben, erklärt er genau dies als die Aufgabe des Menschen: „die Verbundenheit mit allem Leben, ja mit dem Sein im Ganzen, dessen Teil er ist zu erfahren“.

„Überall, wo du Leben siehst, das bist du!“

Der Urwaldarzt und Friedensnobelpreisträger machte deutlich, dass es für diese Erfahrung der Verbundenheit nicht notwendigerweise einer lebensgefährlichen Situation bedarf. Jeder und jede von uns kann dies jederzeit im eigenen Alltag erfahren, wenn – und das ist der entscheidende Punkt – wir dafür offen sind. Denn, so schreibt Albert Schweitzer: „In allem findest du dich wieder. Der Käfer, der tot am Wege liegt, er war etwas, das lebte, um sein Dasein rang wie du, an der Sonne sich erfreute wie du, Angst und Schmerzen kannte wie du, und nun nichts mehr ist als verwesende Materie, wie du über kurz oder lang sein wirst.“

Weshalb aber fällt es uns Menschen so schwer, genau diese Erfahrung des Eingebundenseins in die Natur zu machen? Und weshalb fühlen wir uns oft so getrennt und entfremdet von der Natur, die uns doch nährt und am Leben erhält? Und – weiter gefragt: Was kann uns darin unterstützen, diese Illusion der Trennung zu überwinden und die ursprüngliche Verbundenheit zu erfahren?

Wir schützen, was wir lieben

Jeder Appell an die Menschen, die Natur zu schützen und dadurch den Klimawandel zu stoppen, bleibt ohne Resonanz, solange dieser Appell nur auf der kognitiven Ebene erfolgt. Erst wenn wir die intensive Erfahrung der Verbundenheit machen und damit auch unsere radikale Abhängigkeit von der Natur spüren können, werden wir auch bereit sein, uns für ihren Schutz engagiert einzusetzen.

Der amerikanische Wildnispädagoge Mark Coleman machte dies mit den Worten deutlich: „Wir schützen, was wir lieben. Wir lieben, wenn wir eine echte Beziehung zu etwas haben. Dafür ist Kontakt, Verbindung, Sich-Einlassen, Bewusstheit nötig. Dies alles ist möglich, wenn wir uns inmitten der Natur befinden. Wir verlieben uns in die Natur. Dann werden wir sie auch beschützen.“

Vom Leben in den Wäldern

Was wir also brauchen, ist eine intensive Begegnung mit der Natur mit allen Sinnen, einem offenen Herzen und einem gesammelten Geist. Der amerikanische Naturphilosoph Henry David Thoreau ist mir hierfür ein inspirierendes Vorbild. Hier eine Passage aus seinem berühmten Werk Walden. Ein Leben mit der Natur:

„Ich zog in die Wälder, weil ich bewusst leben, mich nur mit den wesentlichen Dingen des Lebens auseinandersetzen und zusehen wollte, ob ich das nicht lernen konnte, was es mich zu lehren hatte, um nicht auf dem Sterbebett einsehen zu müssen, dass ich nicht gelebt hatte. Ich wollte nicht das Leben, was kein Leben war, denn das Leben ist so kostbar; noch wollte ich Entsagen üben, wenn es nicht unumgänglich nötig war. Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen und so standhaft und spartanisch leben, um alles, was nicht Leben war, davonzujagen.“

Um dies zu erfahren, baute er sich eine Blockhütte an einem See namens Walden und begann sein zweijähriges Experiment, das er in seinem Buch akribisch dokumentierte. Es sollte zu einem der bedeutendsten Werke der amerikanischen Literatur werden und ist bis heute das Kultbuch für Naturliebende und Grundlage für alternative naturverbundene Lebensformen.

Inmitten des Waldes und abseits der lärmenden Städte – ja, die Städte wurden bereits im 19. Jahrhundert als lärmend empfunden – widmete er sich den elementaren Dingen des täglichen Lebens und Überlebens. „Jeder Morgen war eine freundliche Einladung, mein Leben so einfach, ja, ich möchte sagen, so unschuldig wie die Natur selbst zu gestalten“. Er buk sein Brot aus selbstangebautem Mais, sammelte Beeren, erntete Bohnen und Kartoffeln. Tag für Tag wuchs seine Verbundenheit mit der Natur, als deren Teil er sich zunehmend erlebte, mit der er zunehmend zusammenwuchs und intensive Erfahrungen des Eins-Seins machte.

„Wie sollte ich nicht in Einklang mit der Natur leben? Bin ich denn nicht selbst zum Teil Blatt und Humus?“

Der naturliebende Philosoph wurde damit Generationen von Menschen, die sich nach einem naturverbundenen Leben sehnen, zum Impulsgeber. Thoreaus Wildnisexperiment machte deutlich, dass die Natur dem Menschen einen Raum der Selbsterfahrung öffnet, die er in dieser Intensität nirgendwo sonst machen kann. Dass er hier in Berührung kommen kann mit dem Teil in sich, der im hektischen und lärmenden Alltag so oft verschüttet ist.

Mehr als Waldbaden und Wellness

Seine Erfahrungen gingen über den heutigen Wellness-Trend des Waldbadens weit hinaus. Thoreau machte deutlich, dass durch das Leben in den Wäldern eine tiefe emotionale Verbundenheit und Naturvertrautheit möglich wird. Und dass diese die Grundlage bilden für einen umfassenden und nachhaltigen Schutz der Natur.

Damit beeinflusste der Transzendentalist maßgeblich die Natur- und Wildnispädagogik, die in den 1970er Jahren entstand und deren erklärtes Ziel es bis heute ist, Kindern ebenso wie Erwachsenen intensive Naturerfahrungen zu ermöglichen, um die Beziehung zwischen Mensch und Natur zu vertiefen.

Denn was wir in unserer zivilisatorischen Komfortzone des täglichen Lebens verdrängen, wird uns in der unmittelbaren Begegnung mit der Natur deutlich: unsere existenzielle und vollständige Abhängigkeit von ihr. Inmitten der Natur verlieren wir endlich unsere Hybris und die Anmaßung zu glauben, dass wir deren Beherrscher wären. Wer existenzielle Naturerfahrungen macht, gelangt unweigerlich zu der eingangs zitierten Ehrfurcht vor allem Lebendigen. Und wird sich in der Folge für den Schutz der lebendigen Natur einsetzen.

Wach sein mit allen Sinnen

Was aber kann uns darin unterstützen, diese Verbundenheit mit der Natur auch tatsächlich zu erfahren? Auch hierfür gab uns Thoreau eine Inspiration: „Bei jedem Wetter, zu jeder Tages- oder Nachtstunde versuchte ich, den gegebenen Augenblick zu benutzen. Immer war ich bedacht dort festen Fußes zu fassen, wo zwei Ewigkeiten – Vergangenheit und Zukunft – zusammentreffen d.h. gerade im jeweiligen Augenblick.“

Es braucht also Entschlossenheit und die bewusste Entscheidung, um genau da anzukommen, wo wir viel zu selten anzutreffen sind: im gegenwärtigen Augenblick. Und nicht das zu tun, was wir selbst inmitten der schönsten Natur immer wieder tun: in Gedanken versunken durch die Wälder stolpern, über das Vergangene nachdenken, das wir doch nicht mehr ändern können, und uns über die Zukunft sorgen, die dann doch ganz anders sein wird, als wir uns vorstellen.

Für diese Erfahrung braucht es Aufmerksamkeit, Neugier, Begeisterung, das Wach-sein mit allen Sinnen. Dies unterstützt uns darin, mit Achtsamkeit die Natur wahrzunehmen. Denn nirgendwo sonst werden unsere fünf Sinne so intensiv und ganzheitlich angesprochen wie in der Natur. Und nirgendwo sonst mag es uns so gut gelingen, im Hier und Jetzt anzukommen, unseren Geist zu klären, unser Herz zu öffnen und in Harmonie mit der Welt um uns herum zu leben. Diese Haltung der offenen Achtsamkeit unterstützt uns darin, ein fürsorgliches, mitfühlendes und freundschaftliches Verhältnis zu Bäumen, Blumen, zu den Grashalmen ebenso wie zu den großen und kleinen Tieren zu entwickeln.

Der Quantenphysiker Hans-Peter Dürr zitierte häufig am Ende seiner Vorlesungen dieses Sprichwort: „Der Baum, der fällt, macht Krach. Der Wald wächst lautlos.“ Mit diesen Worten wollte er die Menschen ermutigen, sich von den destruktiven Mächten nicht entmutigen zu lassen, sondern die Aufmerksamkeit stattdessen auf die vielen Menschen und Projekte zu richten, die oft in aller Stille doch zugleich in großer Entschiedenheit dafür sorgen, dass das Leben weitergeht, indem sie die Natur schützen und bewahren. Mit jedem Baum, den wir pflanzen, mit jedem Tier, das wir vor der Qual des Schlachthauses bewahren, mit jeder Blume, die wir für die Bienen pflanzen, sind auch wir Teil dieses Waldes, der lautlos wächst und uns alle am Leben erhält.

 

Die Natur ist für die Achtsamkeitsautorin Christa Spannbauer eine immerwährende Inspirationsquelle, für deren Bewahrung sie sich in ihrer Heimatstadt Berlin einsetzt. In ihrem Naturblog schreibt sie über ihre Erfahrungen in und mit der Natur: www.christa-spannbauer.de/blog/natur

 

 

 

 

 

 

 

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