Ethische Alltagsfragen
In unserer neuen Rubrik “Ethische Alltagsfragen” beantwortet der Philosoph Jay Garfield heute zwei Fragen zum Thema Ausbeutung: Was tue ich gegen Ausbeutung der Mitarbeiter im Fitness-Studio? Ist es moralisch okay, Polinnen für die Pflege meines Vaters zu beschäftigen?
Die Fragen: Die Trainer in meinem Fitness-Studio haben mir erzählt, wie wenig sie verdienen: Der Stundenlohn liegt unter dem gesetzlichen Mindestlohn, aber sie sind nicht fest angestellt, sondern arbeiten als „Freiberufler“. Somit müssen sie sich selbst versichern und der Besitzer umgeht die Sozialkosten. Wie soll ich mich verhalten? Unterstütze ich dieses System durch meinen Mitgliedsbeitrag?
Mein Vater ist demenzkrank und wird zu Hause betreut. Die Grundversorgung macht ein Pflegedienst. Darüber hinaus gibt es eine 24 Stunden-Betreuung: Zwei polnische Frauen teilen sich die Arbeit. Sie kommen jeweils für fünf Wochen angereist und sind Tag und Nacht vor Ort; vier Stunden pro Tag haben sie frei, nachts braucht der Vater keine Hilfe. Die Frauen sind sozialversichert und verdienen 1200 Euro pro Monat. Ist das Ausbeutung? Wir sind im Zweifel, ob wir diese Art der 24-Stunden-Betreuung moralisch vertreten können?
Jay Garfield: Beiden Fragen liegt die Sorge darüber zugrunde, ob es moralisch gerechtfertigt ist, billig Arbeit einzukaufen von Menschen, die kaum Entscheidungsfreiheit über ihren Lohn haben. Das fühlt sich wie Ausbeutung an, und in der Tat ist es das. Wir sollten in beiden Fällen Wege suchen, den Schaden zu verringern oder es möglichst vermeiden, selbst an Ausbeutung beteiligt zu sein.
Im Fall der polnischen Pflegekräfte, die schlechter bezahlt werden, als wir uns wünschen, bedeutet allein die Tatsache, dass sie bei Ihnen zu Hause arbeiten, dass Sie ihre Situation verbessern können. Sie können ihr Gehalt aufstocken, ihnen bezahlte Urlaubstage anbieten oder andere Dinge tun, die ihr Leben angenehmer machen.
In Ihrer Frage klang an, dass diese Pflegekräfte in Deutschland trotz des geringen Lohns immer noch erheblich mehr verdienen als in Polen. Das macht die Sache zwar nicht ideal, bedeutet aber, dass sie eine aus ihrer Sicht vernünftige Entscheidung über ihr Arbeitsleben getroffen haben. Durch Ihr Verhalten können Sie sie darin bestärken.
Gegen unmoralische Arbeitsbedingungen protestieren
In dem anderen Fall, wo Arbeitskräfte unangemessener Weise als Freiberufler behandelt werden, verhält es sich aus meiner Sicht anders. Das ist ein klarer Fall der Umgehung von Sozialregelungen; dahinter steht eine betrügerische Einstellung, auch wenn es noch legal sein sollte.
Wer in diesem Fitness-Studio tätig ist, hat keine Wahl. Er ist gezwungen, ohne Sozialleistungen zu arbeiten, andernfalls würde er gefeuert. Aus meiner Sicht ist es moralisch falsch, solch ein Business zu unterstützen. Man sollte derlei Firmen boykottieren und ihr unmoralisches Verhalten anprangern. Geschäftspraktiken wie diese können wir nur beenden, wenn wir dem etwas entgegen setzen. Das würden wir auch tun, wenn wir entdeckten, dass ein Produkt, das wir gekauft haben, durch Sklavenarbeit hergestellt wurde.
Der Punkt ist: Soange wir in ein Wirtschaftssystem mit einem Arbeitsmarkt involviert sind, sind wir zu einem gewissen Grad auch Teil der Ausbeutung. Wo sich dies nicht vermeiden lässt, können wir versuchen, das System zu verbessern. Wo wir direkt beteiligt sind, können wir unseren Spielraum nutzen. Wo wir direkt mit unmoralischem Verhalten konfrontiert sind, sollten wir aussteigen, dieses öffentlich machen und protestieren.
Da wir mit anderen menschlichen Wesen verbunden sind, wird unser moralisches Leben immer komplex sein. Und doch können wir, wenn wir genau nachdenken, oftmals moralisch heilsam handeln. Dafür ist Bewusstheit die Voraussetzung.
Schaden verringern
Die beiden Fragen hängen eng miteinander zusammen. Sie spiegeln die moralischen Probleme wider, die sich nicht vermeiden lassen, solange wir in den Kauf von Arbeitskräften involviert sind.
Genau diese Probleme brachten Marx zu seiner Kritik des Kapitalismus: die Entfremdung der Arbeit und die Vermarktung des Menschen. Es ist wichtig, dass wir uns bewusst sind, wie allgegenwärtig solche Schwierigkeiten sind. Wie leicht werden wir in moralisch zweifelhafte Unternehmungen verwickelt, einfach nur weil wir an der kapitalistischen Produktionsform sowie am Kaufen und Verkaufen von Arbeit teilhaben. Wir sollten uns auch darüber klar werden, wie wir den Schaden mildern können, der durchs solche Unternehmungen angerichtet wird. Bewusstheit ist der 1. Schritt.
Führen Sie sich vor Augen, wie weit verbreitet solche Strukturen sind: Wenn ich ein T-Shirt erwerbe, das in Bangladesh oder Indonesien genäht wurde, sollte ich mir bewusst sein, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter womöglich schwer ausgebeutet wurden und unterbezahlt waren. Gleichzeitig werden anderswo Arbeiter, die normalerweise ordentlich bezahlt werden und gute Arbeitsbedingungen genießen, arbeitlos. Oder wenn ich in einem Hotel übernachte, werden die Menschen, die das Zimmer sauber machen, womöglich ebenfalls ausgebeutet.
Sobald ich in diesen Situationen die moralischen Konsequenzen bedenke, bin ich verpflichtet, die Situation zu verbessern. Und dies ist nicht immer möglich, es sei denn, wir zetteln eine Revolution an. Aber manchmal können wir durch kleine Schritte etwas Entscheidendes bewirken.
Jay Garfield
Jay Garfield ist Professor für Philosophie am Smith College, Northhampten, USA, und Dozent für westliche Philosophie an der tibetischen Universität in Sarnath, Indien. Ein Schwerpunkt seiner Lehrtätigkeit ist die interkulturelle Philosophie. Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher, zuletzt erschienen: „Engaging Buddhism. Why It Matters to Philosophy”, Oxford University Press 2015
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