Bitte nicht stören – Über die Kritik an der „Letzten Generation“

Foto: Letzte Generation
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Ein Standpunkt von Birgit Stratmann

Die verbalen Attacken auf die Aktivisten der „Letzten Generation“ sind unverhältnismäßig und zeigen, dass viele den Ernst der Lage immer noch leugnen. Sie wollen nicht gestört werden, denkt Birgit Stratmann. Trotzdem hält sie die Proteste nicht für geeignet, Maßnahmen für einen wirksamen Klimaschutz voranzubringen.

Die Aktionen der Klima-Aktivisten „Letzte Generation“ im Herbst 2022 haben vor allem in der Politik scharfe Reaktionen ausgelöst. Verkehrsminister Wissing meinte nach der vorübergehenden Blockades des Flughafens in Berlin, die Aktivisten würden „immer skrupelloser“. Moment – sind Menschen skrupellos, weil sie in einem demokratischen Staat von dem Recht Gebrauch machen, gewaltfrei zu protestieren?

Es stimmt, dass die Klimaschützer punktuell Rechtsbrüche begehen, zum Beispiel Sachbeschädigung; dafür müssen sie die rechtlichen Konsequenzen wie Geldstrafen oder Haft in Kauf nehmen. Die Aktionen mögen einem nicht gefallen, aber die Aktivisten bewegen sich im Rahmen des demokratischen Systems, in dem ziviler Ungehorsam legitim ist, sofern er Menschen nicht gefährdet.

In den Wochen zuvor hatten Politiker verbal aufgerüstet. Alexander Dobrint etwa warnte vor der Entstehung einer neuen „Klima-RAF“. In den Medien wurden die Aktivisten als „Öko-Extremisten“ und „Kriminelle“ tituliert. All diese Entgleisungen zeigen den Realitätsverlust der Sprecher.

Ist das Wort „skrupellos“ nicht eher angebracht für die Verantwortlichen in den großen Industrienationen? Die G20-Staaten erzeugen rund 80 Prozent aller Treibausgase. Damit bringen sie unsagbares Leiden über den ganzen Globus, vor allem zu Menschen, die kaum Treibhausgase ausstoßen.

In Pakistan beispielsweise standen aufgrund der großflächigen Überschwemmungen 2022 circa 30 Millionen ohne Unterkunft da. Im südlichen Afrika sind Bauern aufgrund extremer Trockenheit kaum mehr in der Lage, Lebensmittel für sich und ihre Familien anzubauen.

Ist skrupellos, wer mit Aktionen auf den Ursache-Wirkung-Zusammenhang beim Klima aufmerksam macht? Ist skrupellos, wer kritisiert, dass wir das 1,5 Grad-Ziel verfehlen, auf das sich die Weltgemeinschaft in Paris geeinigt hat?

Am liebsten Business as Usual

Diejenigen, die gegen die Letzte Generation hetzen, tun am wenigsten: Das einzige Ministerium, das hierzulande die Klimaziele verfehlt, ist das Verkehrsministerium. Da nützt auch die Verabschiedung eines 49-Euro-Tickets nichts, wenn ansonsten nur auf den Autoverkehr gesetzt wird.

Manche Kritiker haben die Weckrufe der letzten Jahre – denken wir nur an das entsetzliche Hochwasser im Ahrtal 2021, Wassermangel und Hitzesommer – nicht wirklich zur Kenntnis genommen, geschweige denn die globale Lage und die Gefahren für die nächsten Generationen.

Die Gruppe, die sich etwas anmaßend “Letzte Generation” nennt, hat ein Anliegen. Mit ihrer Einschätzung der Lage bewegt sie sich im Rahmen der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse. Aber sind die Proteste dazu geeignet, Menschen zu wirksamem Klimaschutz zu bewegen? Hier sind Zweifel angebracht.

Vier Punkte, warum die Aktionen der Letzten Generation nicht fruchten

Erstens: Die teilweise spektakulären Aktionen lenken vom eigentlichen Thema ab. In der öffentlichen Debatte wird im Zusammenhang mit den Protesten kaum über die Inhalte und Ziele gesprochen, sondern über die Form und die Mittel gestritten.

Das liegt auch daran, dass die Aktionen nicht die Verantwortlichen und Entscheider treffen. Was nützen Straßenblockaden, wenn danach die Autolawine weiterrollt und auch noch Tankgutscheine ausgegeben werden?

Auch die Aktionen gegen die Kunst treffen die Falschen. Kunst dient ja gerade dazu, Verbundenheit zu stiften und Menschen an ihre tieferen Bedürfnisse zu erinnern. All das brauchen wir, wenn wir das Klima schützen wollen.

Aktionen sind dann wirksam, wenn sie die Entscheidenden punktgenau treffen und mit konkreten politischen Forderungen verbunden werden. Wenn schon Tomatensuppe auskippen, dann im Foyer des Verkehrsministeriums – zum Beispiel mit der Forderung eines Tempolimits. Wenn man sich irgendwo festklebt, dann dort, wo die politischen Verantwortlichen sitzen. Auf diese sollte man Druck ausüben.

Zweitens: Die große Gefahr besteht, dass die Aktionen die ganze Klimabewegung schwächen, weil sie polarisieren. In Zeiten der Krise ist ziviler Widerstand natürlich erlaubt. Gleichzeitig muss man, gerade beim Klimaschutz, die Bürgerinnen und Bürger überzeugen und mitnehmen.

Wir werden als Gesellschaft die enormen Klimaprobleme nicht lösen, indem wir mit dem Finger aufeinander zeigen: Die „Letzte Generation“ gegen alle, alle gegen die Letzte Generation. Beim Klimaschutz muss die Gesellschaft zusammenstehen, daher sollten die Proteste Solidarität erzeugen und die Gesellschaft nicht spalten.

Und noch ein Punkt, der manchen sauer aufstößt: Wenn Aktivisten sich selbst moralisch erhöhen und andere erniedrigen, können sie nicht erwarten, dass man sich ihnen freudestrahlend anschließt. Die „Letzte Generation“ nimmt für sich in Anspruch vorzugeben, was für alle richtig und was falsch ist. In moralischen Fragen aber brauchen wir den Dialog und keinen Rigorismus.

Klimaschutz geht nur gemeinsam

Drittens: Nötigung, etwa Autos zu behindern, und andere drastische Maßnahmen können Missstände aufzeigen. Aber sie sind kein politisches Mittel und sie ersetzen auch nicht mühsame politische Prozesse, in denen sich die verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte einigen müssen.

Man kann der Gesellschaft nicht den eigenen Willen aufzwingen, auch wenn man Recht hat. In der Demokratie müssen die verschiedenen legitimen Ziele – ökologische, soziale, wirtschaftliche, politische – und ihre Umsetzung miteinander ausgehandelt werden.

Viertens: Die Proteste der „Letzten Generation“ adressieren bisher nur den Verkehr, nicht die anderen großen Themen der Klimapolitik: Der Gebäudebereich, also das Bauen und Nutzen von Gebäuden, ist für ca. 30 Prozent aller CO2-Emissionen in Deutschland verantwortlich. Das globale Ernährungssystem ist, je nach Berechnung, mit etwa einem Viertel oder sogar einem Drittel an den weltweiten Treibhausgas-Emissionen beteiligt.

Dies sind komplexe Probleme, die die Politik zu lösen hat. Sie muss die politischen Rahmenbedingungen setzen, damit in allen Schlüsselbereichen mehr CO2 eingespart wird. Das ist auch der Grund, warum die Fridays for Future in den letzten Jahren mit großen Demonstrationen und Medienpräsenz so erfolgreich waren. Sie haben Druck ausgeübt, so dass sich die Politik bewegen musste.

Tatsächlich haben sie mehr bewirkt als die spektakulären Aktionen der „Letzten Generation“. Die Fridays haben dazu beigetragen, weltweit Hunderttausende Menschen aus vielen Bevölkerungsschichten auf die Straßen zu bringen. Klimaschutz ist, auch aufgrund dieses breiten Bündnisses, in der Mitte der Gesellschaft und auch in der Wirtschaft angekommen.

Natürlich wünschten sich viele Klimaschützer schnellere und effektive Maßnahmen. Doch diese lassen sich nicht erzwingen. Die Aktivisten der „Letzten Generation“ erweisen dem Klima einen Bärendienst. Sie polarisieren die Gesellschaft und spielen jenen Kräften in die Hände, die wenig Interesse am Klimaschutz haben.

Besser wäre es, die vielen Menschen, die guten Willens sind, mitzunehmen und eine breite Bewegung für den Schutz der Lebensgrundlagen zu initiieren. Klimaschutz geht nur gemeinsam.

Birgit Stratmann ist Mitbegründerin des Netzwerks Ethik heute. Verantwortlich für die Redaktion des Online-Magazins und die Programmplanung. Sie hat lange Jahre für Greenpeace gearbeitet.

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