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Brauchen wir mehr Emotionen in der Politik?

Nussbaum Politische Emotionen

Ein streitbares Buch der Philosophin Martha Nussbaum

Die Philosophin Martha Nussbaum plädiert in ihrem neuen Buch dafür, positive Emotionen wie die Liebe zum Gemeinwesen zur Grundlage von Politik zu machen. Dürfen menschliche Gefühle Teil des politischen Diskurses sein? Ja müssen sie vielleicht stärker berücksichtigt werden?

Spieltheorie und Neurowissenschaften haben viel dazu beigetragen, das Bild des Homo oeconomicus, des allein rational handelnden Menschen, zu dekonstruieren. Von außen betrachtet mögen große Systeme wie die Ökonomie und die Politik zwar wirken, als gründeten sie allein auf nüchternen, sachlich vermittelten Regeln und Zusammenhängen. Doch bei allem, was Menschen tun, sind sie auch emotional involviert.

Was geht uns durch den Kopf und was durchs Herz, wenn wir Bilder von Hunderten Flüchtlingen sehen, die auf ihrem Weg nach Europa ertrinken oder mit knapper Not dem Tod entrinnen? Sind es vordergründig Mitgefühl und Schmerz, weil uns das Leiden unerträglich erscheint? Oder gärt da auch, vielleicht ganz unterschwellig, Sorge oder gar Angst, ob die stetig wachsende Aufnahme dieser Gestrandeten auch unsere eigenen Lebensperspektiven tangieren könnte?

Die Zähigkeit im politischen Diskurs beim Ringen um Lösungen spiegelt diese emotionale Ambivalenz unserer Gesellschaften wider. Und veranlasst die große Philosophin Martha Nussbaum dazu, mit ihrem jüngsten Buch die „Politischen Emotionen“ auf die öffentliche Agenda zu setzen.

Unser Betroffenheitsradius ist zu klein

Die Deklaration der Menschenrechte hat vor mehr als 60 Jahren den Rahmen geschaffen für eine politische Selbstverpflichtung, die einzigartig ist in der modernen Geschichte. Und doch hält das Ringen um ihre Verwirklichung bis zum heutigen Tage an. Wenn unser „Betroffenheitsradius“ zu klein ist, scheint ein gerechtes Miteinander schlicht nicht möglich, so Nussbaum. Doch welche politischen Rahmenbedingungen, die der emotionalen Seite des Menschseins gerecht werden, könnten diesen Radius erweitern?

Nussbaum liefert auf gut 600 Seiten eine eindrückliche Materialsammlung, bemüht Rousseau, Herder, Mozart, Comte, Mill und Tagore. Mit diesen Beispielen aus verschiedenen Zeiten und Kulturen will sie herausdistillieren, wie sich politische Strukturen fördern lassen, die eine erweiterte Mitmenschlichkeit möglich werden lassen.

„Respekt allein ist kalt und lau, er reicht nicht aus, um die schlechten Neigungen zu überwinden. … Ein lediglich in der Idee der Menschenwürde gründender Respekt wird sich folglich als unfähig erweisen, alle Bürger als gleichwertig zu betrachten, wenn er nicht mit phantasievoller Anteilnahme am Leben anderer und der inneren Überzeugung von ihrem vollen Menschsein verbunden ist“, beschreibt sie.

Die große Herausforderung liegt darin, Politisches mit der Tiefendimension des Herzens zu verbinden. Denn: „Die Art von phantasievollem Einfühlungsvermögen, die eine Gesellschaft braucht, speist sich aus Liebe.“ Nussbaums „Liebe zum Gemeinwesen“ ist eine vielgestaltige, die private Bedürfnisse und öffentliche Notwendigkeit miteinander zu vermitteln sucht. Sie trägt den Unterschiedlichkeiten in Persönlichkeit und Kultur Rechnung und deutet auf ein größeres, umfassenderes Gemeinsames: „eine Sorge um seine Lieben, als Selbstzweck und nicht als bloßes Mittel zum Zweck“.

Doch wer sind diese Lieben? Die eigene Familie, Freunde, die Angehörigen der eigenen Kultur oder gar alle Menschen? Und wie kann der politische Prozess diese in Liebe gründende Sorge stimulieren?

Was kommt nach der emotionalen Politisierung?

Kritiker aus dem philosophischen Feld halten Nussbaum vor, dass es geradezu ein philosophischer Sündenfall sei, im Diskurs über das gute und gerechte Leben auf vorpolitische Motive wie die Emotionen zurückzugreifen. Ein solcher Griff, siehe Habermas, sei allenfalls denkbar „unter größten Skrupeln und angesichts besonderer Not“ (Peter Meisenberg, WDR5) mit Blick auf die sich abzeichnende Legitimationskrise demokratischer Gesellschaften.

Man könnte allerdings auch umgekehrt feststellen, dass diese Legitimationskrise geradezu die Frage aufwirft, welche rein menschlichen Motive im politischen Diskurs bisher schlicht zu wenig Berücksichtigung finden. Die zum Teil sehr emotional ausgetragenen politischen Debatten selbst, aber auch die stetig emotionaler werdenden bürgerschaftlichen Proteste wie die Pegida-Bewegung legen es zumindest nahe, dass die von Nussbaum aufgeworfene Frage eine Berechtigung hat. Kritisch zu sehen ist vielleicht eher der Versuch, sie im Kontext der politischen Philosophie beantworten zu wollen.

Wie gelingt der Ausweg aus der Stagnation?

So nachdrücklich Nussbaum ihren historischen Quellen Beispiele abringt, die davon zeugen, dass sich das menschliche Gefühlsleben in den letzten Jahrhunderten verfeinert und erweitert hat, so wenig findet sie doch konkrete Ansatzpunkte für einen Ausweg aus der gegenwärtigen emotionalen Stagnation und unserer begrenzten Menschlichkeit. Dem möglichen Vorwurf dieser Diskrepanz zwischen dem von ihr propagierten Ideal und der Realität der Gegenwart versucht Nussbaum am Ende ihres Buches mit einem rhetorischen Kunstgriff zu begegnen:

„Ideale sind etwas Reales. … Wenn es ein gutes Ideal ist, nimmt es das menschliche Leben, so wie es ist, und lässt erkennen, wie reale Menschen sind. … Die Gesellschaft, die uns vorschwebt, ist eine Gesellschaft von und für Menschen, und ihre Verfassung ist nur in dem Maße gut, in dem sie eine realistische Auffassung vom menschlichen Leben zum Ausdruck bringt. Das Ideal ist also auch real.“ Nach 600 Seiten Lektüre ist eine solche Folgerung wenig zufriedenstellend.

Eine neue emotionale Selbstkultivierung

Martha Nussbaum ist mit ihrem Buch eines gelungen: zu zeigen, dass es notwendig ist, die von ihr aufgeworfenen Fragen zu stellen. Und dieser Vorstoß könnte nun auch denen Rückenwind bescheren, die bereits dabei sind, mögliche praktische Schritte zu erforschen.

Die Neurowissenschaften beispielsweise tragen gegenwärtig nicht unwesentlich dazu bei, uns nicht nur in der Theorie ein neues Bild des Menschseins entwerfen zu lassen, sondern auch konkrete Ansätze der Selbstkultivierung zugänglich zu machen. Das von Tania Singer initiierte ReSource-Projekt etwa zeigt, dass bestimmte Formen der Meditation die Spannweite menschlicher Gefühle ausdehnen können – von der Selbstliebe zur Liebe unserer Nächsten zur Liebe aller Wesen.

Nussbaums Buch gibt Initiativen wie dieser einen philosophischen Begründungszusammenhang und ebnet vielleicht den Weg, die politische Bedeutsamkeit emotionaler Selbstkultivierung nachvollziehbarer zu machen. Das könnte dazu beitragen, neue Realitäten zu schaffen.

Nadja Rosmann

Martha Nussbaum. Politische Emotionen – Warum Liebe für Gerechtigkeit wichtig ist. Suhrkamp 2014, 632 Seiten

Dr. Nadja Rosmann ist Kulturanthropologin mit dem Schwerpunkt Identitätsforschung. Sie arbeitet als Journalistin, Kommunikationsberaterin und wissenschaftliche Projektmanagerin vor allem zu Themen aus den Bereichen Wirtschaft und Spiritualität. Sie betreibt das Weblog think.work.different: www.zenpop.de/blog

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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