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Brief an meinen Sohn

Yorick mit seiner Schwester Marika.
Yorick mit seiner Schwester Marika.

Von der Liebe zu einem behinderten Kind

Manuel Bauers Sohn Yorick leidet unter Störungen in seinen Hirnströmen. Er kann sich nicht normal bewegen, gehen, essen oder sprechen. Der bekannte Fotograf hat nun ein Buch über den Alltag mit seinem Sohn geschrieben. Ein Zeugnis von Liebe, Geduld und radikaler Akzeptanz.

 

 

Manuel Bauers Sohn Yorick hat seit seiner Geburt Störungen in seinen Hirnströmen und täglich größere und kleinere epileptische Anfälle. Er kann sich nicht bewegen, nicht allein stehen oder essen, nicht sprechen. Das Aufstehen dauert eineinhalb Stunden, das Schlafengehen drei.

Manuel Bauer, freischaffender Fotograf, hat über den Alltag mit seinem Sohn ein Buch geschrieben. Es ist ein Zeugnis großer Liebe, unendlicher Geduld und radikaler Akzeptanz. Wir veröffentlichen einen Auszug – mit freundlicher Genehmigung des Limmat-Verlags.

 

Heute bist du mein Kanarienvogel. Oben blau, unten grün. Die Hose hast du zu Weihnachten bekommen. Die Hose ist zu lang. Ja, du bist zehn. Aber nicht die Norm. Hosen für Zehnjährige sind dir zu groß.

Ich zieh dir den Pyjama aus. Du schläfst. Ich singe. Das gefällt dir. Ich pfeife eine Melodie. Ein scheues Lächseln huscht über dein Gesicht. Dein schönes Lächeln. Und jetzt die Socken. Die mit den Monstern drauf. Ahhrrr, reißen sie ihre Mäuler auf. Willst du das „Ich-darf-alles“-T-Shirt? Gefällt dir die Aufschrift? Ich finde sie toll. Du kannst nichts, aber du darfst alles.

Wenn du nur sagen könntest, was du willst. Ob dir das T-Shirt gefällt? Und die Unterwäsche? Seit zehn Jahren trägst du sie. Wir ziehen sie dir über. Juckt sie? Ist sie angenehm auf der Haut? Wenn ich dich ausziehe, kratzt du dich gerne. Ist es ein Zeichen gegen die Wollwäsche?

Bin ich so gut gelaunt, weil ich endlich zu schreiben begonnen habe? Tut mir das so gut? Aber wenn ich so gut gelaunt bin, kann ich dann noch schreiben? Kommen mir dann die traurigen Momente noch in den Sinn? Sie sind doch auch wichtig, sie gehören doch auch zu dir und mir.

Keine Bange. Schon kämpfe ich mit dem Pullover. Blau. Ich kriege ihn nicht über deinen Arm. Du schläfst. Hilf mir doch, wenigstens ein bisschen. Du darfst auch weiterschlafen, einfach ein bisschen mitmachen. Bitte. Alles ist verdreht. Wieso muss denn dieser Ärmel so eng sein?

Heute bleibe ich geduldig. Ich habe gut geschlafen. Ja, ich will aufpassen, dass ich dir nicht wehtue, deinen Arm beim Einfädeln in den Ärmel nicht zu fest verrenke. Du kannst nicht auf der Bettkante sitzen, heute nicht, ich stütze deinen Kopf auf meiner Brust. Du bist noch warm von der Nacht. Es ist schwierig, du willst immer zur Seite kippen. Fall mir nicht zu Boden, mein Sohn.

Auf dem Treppenlift liegt dein Kopf in meiner Hand. Ich halte ihn fest, sonst fällst du vornüber. Das Umsteigen in den Rollstuhl. Transfer heißt das. Hilf mir. Halte dich ein bisschen fest an mir. Mein Rücken.

Du schläfst. Ich mache die Medikamente bereit. Ich weiß, es hat keinen Sinn. Ich will dich nicht quälen. Und wie solltest du sie auch essen? Du schläfst. Und so in den leeren Magen, das ist nicht fein. Ich richte sie dennoch her, koche dir einen Brei. Ich will uns eine Chance geben. Oder etwas gegen mein schlechtes Gewissen tun, weil du heute wieder ohne Frühstück zur Schule gehst.

Ich packe deine Medikamente in deine Tasche, du kriegst sie in der Schule. Guten Morgen, Kurt, der Astronaut schläft. Kurt erklärt mir, wo der Handbetrieb für den Rollstuhllift des Busses ist. Doch dann läuft er wieder automatisch. Kurt freut sich. Die Gurten festgezurrt um das schlafende Kind. Tschüss Yorick. Einen guten Tag dir. […]

Dein göttlicher Funke

Du bist so zart. Du hast nichts Böses an dir. Wenn ich versuche, dich zu beschreiben, sage ich, du seist wie ein neugeborenes Kind. Ganz unverdorben von den Sachzwängen unseres Zusammenlebens. Du hast das Böse noch nicht erlernt. Du hast nicht gelernt, auf all das reagieren zu müssen, was um uns ist. Du bist schön. Du trägst noch den göttlichen Funken in dir. Wenn es so was gibt, sage ich dann.

Deine feine Haut spannt sich über deinem verkrümmten Rücken. Ich habe Angst. Mein kleiner Glöckner von Notre-Dame. Ein großer Buckel wölbt sich aus der rechten Seite. Es gäbe zur Zeit keinen Handlungsbedarf, sagten die Spezialisten bei der letzten Kontrolle. Bald steht die nächste an. Als du klein warst, hattest du noch eine gerade Wirbelsäule.

Wegen der Epilepsie suchten wir Rat und Zuflucht in einer Klinik im nahen Ausland. Wir mussten Ausweispapiere für dich machen. Das Passfoto gibt es noch. Du schaust so fröhlich und wach drein. Die Fotografin hat dich einfach auf einen Stuhl gesetzt, wir hielten dich von unten fest, es blitzte, und du hast keinen Anfall gemacht.

Sechs Wochen waren wir dort, lebten und aßen mit anderen betroffenen Familien in der Abteilung für schwere Fälle wie dich. Bei einem älteren Kind trat der Oberschenkelknochen aus der Seite. Weil es nicht gehen konnte, wurden die Gelenke nicht belastet und der Knochen wollte einfach nicht mehr in der Hülfte bleiben. Kaputt wegen Nichtbenutzung. Wie dein Rücken. Mein Rücken wegen Benutzung. Irgendwann wird einer unserer Rücken unsere Leben verändern.

Aus: Manuel Bauer. Brief an meinen Sohn. Von der Liebe zu einem behinderten Kind. Limmat Verlag 2017, 96 Seiten.

 

 

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