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Bringen digitale Medien mehr Gerechtigkeit?

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Interview mit der Wissenschaftlerin Felicitas Macgilchrist

Klassische Schulbücher prägen das, was eine Gesellschaft für selbstverständlich hält. Wie aber ändert sich das im Zeitalter der Digitalisierung? Die Bildungsforscherin Felicitas Macgilchrist spricht im Interview darüber, wann neue Schulmedien soziale Ungleichheiten verstärken und wie künstliche Intelligenz konstruktiv an Schulen eingesetzt werden kann.

Das Interview führte Sarah Kröger

Macgilchrist forscht nach einem Studium der Psychologie und Erziehungswissenschaften in Großbritannien seit 2013 zu Schulbüchern und digitalen Bildungsmedien. Im Jahr 2013 begleitete sie im Auftrag des Leibniz Instituts für Bildungsmedien in Braunschweig die ersten Notebook-Klassen.

Frage: Woher kam Ihr Interesse an Schulbüchern?

Macgilchrist: Schon früh erkannte ich den Zusammenhang von Schulbuchmedien und Macht. Schulbücher legen den Grundstein dafür, was eine Gesellschaft für selbstverständlich hält und welche Werte sie für wichtig erachtet. Aber oft sind sie im Hintergrund. Das fand ich interessant.

Später fokussierten Sie sich dann auf digitale Schulmedien. Werden hier die gleichen Bilder vermittelt wie in klassischen Schulbüchern?

Macgilchrist: Nicht unbedingt. Derzeit erforsche ich gemeinsam mit der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg, wie digitale Schulmedien das Thema Wirtschaft vermitteln. In den klassischen Schulbüchern finden sich fast keine Informationen über nachhaltiges Wirtschaften, Community Economics oder Degrowth.

In digitalen Schulmedien dagegen gibt es beispielsweise auch Materialien von Attac, dem globalen Netzwerk, das sich für eine sozio-ökologische Wirtschaft einsetzt. Solche gemeinnützigen Akteure, aber auch Großunternehmen produzieren viele digitale Bildungsmaterialien. In digitalen Medien kommen also andere Wirtschaftspositionen zu Wort. In Schulbüchern werden diese höchstens am Rande kritisch aufgegriffen.

Liegt dies daran, dass in der digitalen Bildungswelt mehr Player ihre Inhalte vermitteln möchten?

Macgilchrist: In der Schulbuchproduktion gibt es ein sehr aufwendiges Prozedere: Viele Menschen sind involviert, viele Bedürfnisse müssen adressiert werden. Solch komplexen Prozesse gibt es in kleineren NGOs kaum. Daher können diese Akteure relativ schnell Unterrichtsmaterial konzipieren und online stellen. Auch manche Lehrkräfte teilen ihre Arbeitsblätter oder Online-Quizes als Open Educational Resources, die dann für alle im Internet zugänglich sind.

Ist das nicht auch demokratischer, wenn es mehr Zugänge zu Ressourcen gibt?

Macgilchrist: Auf der einen Seite ja. Auf der anderen Seite muss – im Gegensatz zur Schulbuchproduktion – bei digitalen Schulmedien kein demokratischer Aushandlungsprozess eingehalten werden. Im digitalen Bereich gibt es viele große Player mit viel Macht und Ressourcen, die ansprechende und leicht auffindbare Materialien gestalten. Sie entscheiden, was als gesellschaftliche Dominanzkultur dargestellt wird.

Es gibt mehr Partizipation, wenn alle Schüler*innen mit gleichen Technologien ausgestattet sind.

An welchen Fragestellungen forschen Sie und Ihr Team gerade?

Macgilchrist: Uns interessieren die drei A’s: Algorithmen, Automatisierung und AI (engl für “Künstliche Intelligenz, Anm. der Redaktion). Was genau wird in die Technologie hineincodiert – bezogen auf Gerechtigkeit, Partizipation, Kommunikationsweisen und Wissen? Auch die digitalen Praktiken an Schulen untersuchen wir derzeit.

Zum Beispiel fragen wir, wie sich Notebooks und das Ergoogeln von Informationen auf die Klasse auswirken. Unser dritter Forschungsbereich ist spekulativer. Wir greifen feministische Tech-Prinzipien, dekoloniale Ansätze und das Thema Design Justice auf und fragen uns: Wie kann Bildung anders gedacht und gestaltet werden?

Stichwort Bildungsgerechtigkeit: Würden Sie sagen, dass digitale Bildung die Chancengleichheit an Schulen verbessert?

Macgilchrist: Es wird viel darüber gesprochen, was digitale Technologien oder Reformen können. Die Frage ist doch: Was passiert wirklich? In Bezug auf Gerechtigkeit muss ich als Wissenschaftlerin leider sagen, dass es nicht so eindeutig ist.

Zwar führen digitale Medien auf der einen Seite zu mehr Gerechtigkeit, auf der anderen Seite aber zu weniger. So wie fast alles im Bildungssystem. Auf einer Mikroebene wie innerhalb der Klasse sehen wir mehr Partizipationsmöglichkeiten, wenn alle mit den gleichen Technologien ausgestattet werden. Oder wenn Schüler*innen mit besonderem Bedarf mit assistiven Technologien arbeiten.

Doch auf einer Makroebene ist die IT-Ausstattung von Familie zu Familie grundverschieden. Auch gibt es riesige Unterschiede zwischen einigen sehr gut ausgestatteten Gymnasien und anderen, weniger gut ausgestatteten Oberschulen. Diese IT-Unterschiede verstärken die Ungleichheit der Lernenden in struktureller, ökonomischer und sozioökonomischer Hinsicht noch.

An benachteiligten Schulen gibt es weniger Zeit für digitale Technologien.

Liegt es alleinig an der Ausstattung der Schulen mit IT-Geräten und Softwarelösungen?

Macgilchrist: Es zählt nicht nur die Ausstattung, sondern auch, was man damit macht. In den USA gibt es sehr gut ausgestattete Schulen in benachteiligten Stadtteilen, dennoch wird die strukturelle Ungleichheit zwischen den benachteiligten Schüler*innen und jenen aus wohlhabenderen Elternhäusern reproduziert.

Dann ist die Frage danach, wie Lehrkräfte mit den Technologien umgehen, nicht zu unterschätzen?

Macgilchrist: Wir beobachten, dass die Lehrkräfte an benachteiligten Schulen viel mehr auf der Beziehungsebene unterwegs sind. Sie müssen zum Beispiel Konflikte zwischen den Kindern mitten im Unterricht lösen und mit den Konfliktbeteiligten kurz aus dem Raum gehen.

Auf dem Gymnasium ist diese Art von Konflikten nicht so ausgeprägt. So kann die Lehrkraft den Lehrstoff und die Technologien ganz anders entfalten. Als ich mit mehreren Schulleitungen benachteiligter Schulen über Partnerschaften für das Projekt „Datafied“ telefoniert habe, teilten sie mir mit, dass sie erst mal die „echten Probleme“ bei sich angehen müssten.

Softwarehersteller kennen kaum die Realität an Schulen in prekären Lagen.

Sollten Softwarehersteller ihre Lösungen dann stärker auf die Bedürfnisse der Schulen zuschneiden?

Macgilchrist: Ja. Softwarehersteller waren häufig selbst auf Gymnasien und kennen die Realität von anderen Schulformen kaum. Sie greifen selten die Möglichkeit auf, mit aktiven Lehrkräften gemeinsam, im Co-Design, Produkte zu entwickeln.

Eine Sache, die ich spannend finde, ist die Idee kollektiver Beschaffungsprozesse. Wenn der Bedarf formuliert ist, werden Produkte hergestellt, die genau auf diesen Bedarf zugeschnitten sind. Ähnlich könnte dies für Schulen funktionieren.

Hierfür müssten sich Schulen in ganz Europa vernetzen und ähnliche pädagogische Prioritäten ausschreiben – so würde Software entwickelt, die genau das kann, was die Schulen wirklich benötigen. Digitale Schulbücher waren zum Beispiel lange nicht auf E-Book-Readern möglich, weil sie Grafiken nur in schwarzweiß anzeigen. China wollte das aber möglich machen und entwickelte deswegen farbige eBook-Reader.

Sollte Künstliche Intelligenz und der Umgang mit ihr ein Teil des Unterrichts sein? Und wenn ja, wie?

Macgilchrist: Wenn sich eine Lehrkraft dafür interessiert, kann sie mit ihren Schüler*innen Künstlicher Intelligenz kritisch und kreativ begegnen. Gefährlich wäre es, wenn jetzt in Lehrpläne reingeschrieben würde, wie konkret mit KI umgegangen werden soll. Denn das ändert sich ständig. Ich würde daher fachspezifisch vorgehen.

In Kunst kann man über KI-generierte Kunst sprechen. In Politik können Klassen über partizipative Prozesse reden: Wie kann KI unterschiedliche gesellschaftliche Prozesse widerspiegeln, ohne bloß die Dominanzkultur wiederzugeben? Grundsätzlich finde ich es vorteilhaft partizipative Modelle umzusetzen, in denen die Schüler*innen gefragt werden, was sie schon wissen, welche Kritik und Fragen sie haben, und was sie lernen müssen. Dies geschah zum Beispiel in Schottland und Irland bei der Entwicklung der Rahmen für digitale Kompetenzen.

Universität Oldenburg/Daniel Schmidt

Felicitas Macgilchrist ist Professorin für Digitale Bildung in der Schule an der Universität Oldenburg. Sie forscht und lehrt an der Schnittstelle von digitaler Kultur und Schule, mit einem besonderen Fokus auf den sozialen, politischen und kulturellen Dimensionen von digitalen Medien.

 

 

 

 

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