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Buen vivir: Das Gute Leben in grün

Photo Spirit/ Shutterstock
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Basiswissen: Lebensphilosophie aus Südamerika

Buen Vivir ist ein Konzept des Guten Lebens aus Lateinamerika, das die Harmonie mit der Natur und allen Lebewesen in den Mittelpunkt stellt. Anders als im Westen steht nicht das Individuum im Fokus, sondern die Gemeinschaft und das Gute Leben für alle – auf der Basis von Nachhaltigkeit.

Kriege, Krisen, Klimawandel: Die Welt scheint im Chaos zu versinken. Zwischen Inflation und Wohnungsnot scheint der Wunsch nach einem nachhaltigen und vielleicht sogar glücklichen Leben zum blanken Luxus zu werden.

Das Konzept des „buen vivir“ geht vom Gegenteil aus: Wenn wir ein gutes Leben führen, ist das gut für die Gesellschaft und den Planeten. Was steckt hinter der indigenen Philosophien Lateinamerikas – und kann sie auch uns in Europa helfen?

„Buen vivir“, die spanischsprachige Version des guten Lebens, ist vor allem unter den indigenen Völkern der Quechua und der Aymara verbreitet. Doch dieses gute Leben ist viel mehr als individuelles Wohlbefinden oder Glück.

„Buen vivir“ ist ein ganzheitlicher Ansatz, um gut mit sich, der Gesellschaft und der Natur umzugehen – und das über Generationen hinweg. Wenig überraschend bildet „buen vivir“ damit einen Gegenentwurf zum westlichen Wachstumsdogma. Statt nur auf wirtschaftliches Wachstum und individuellen Fortschritt zu schauen, sucht „buen vivir“ Wohlstand für alle. Und der sollte nicht auf Kosten der Umwelt gehen.

Weltanschauung für eine glückliche Welt

Wer nach dem Motto „buen vivir“ lebt, sieht sich als Teil der Natur, und nicht als überlegen über alles und jeden. Das liegt unter anderem auch daran, dass nicht die Menschen über die Welt regieren, sondern Pachamama, Mutter Erde, das Sagen hat.

Diese Weltanschauung stellt unser westliches Streben nach Individualismus und Wettbewerb in Frage. Das gute Leben im Kapitalismus lässt das wahre Glück schnell zum Warenglück verkommen. „Buen vivir“ dagegen sucht nach Zusammenhalt und Kooperation, nach immateriellen Werten.

Statt Ressourcen zu erschöpfen, um unsere Bequemlichkeit zu fördern, versuchen die Anhänger von „buen vivir“ einen anderen Ansatz: Da Pachamama als lebendiges Wesen wahrgenommen wird, ist es eine Frage des Respekts, mit ihren Ressourcen verantwortlich umzugehen.

Die extensive Nutzung der Ressourcen schließt auch ein, dass diese gerecht verteilt werden. Entsprechend bedeutet „buen vivir“ für die Politik, dass alle Menschen gleichen Zugang zur Gesundheitsversorgung, zu einer gesunden Umwelt und damit zu einem guten Leben haben.

Da sich die Anhänger von „buen vivir“ als Bewohner derselben Erde verstehen, ergeben Auf- oder Abwertungen anderer Völker für sie keinen Sinn. Kulturelle Vielfalt ist nach dieser Denkweise ähnlich wünschenswert wie die Artenvielfalt in der Natur.

In Ecuador steht der Pachamama-Gedanken seit 2008 an zentraler Stelle als Verfassungsziel in der Verfassung. Darunter fällt unter anderem das Recht auf Ernährung, Gesundheit, Erziehung und Wasser. Auch erkennt die Verfassung die Natur seither als rechtliches Subjekt an, das das fundamentale Recht auf Respekt und Schutz hat.

Diese rechtlichen Rahmenbedingungen erlauben es, Projekte und Entwicklungen, die die Umwelt schädigen könnten, im Namen der Natur anzufechten. So bietet die ecuadorianische Regierung immer an, Ölfelder in Regenwaldgebieten unberührt zu lassen, wenn Ecuador dafür Ausgleichszahlungen von der Weltgemeinschaft erhält. Bislang hat sich jedoch kein Land bereiterklärt, einen solchen Ausgleich zu zahlen. Dennoch zog 2009 auch Bolivien nach und verbriefte mit „buen vivir“ verbundene Gedanken in der Verfassung.

Glücklich und nachhaltig unterwegs

Ein weiterer konkreter Anwendungsfall von “buen vivir” findet sich in gemeinschaftsbasierten Tourismusprojekten in Ländern wie Ecuador und Peru. Diese Projekte zielen darauf ab, Besuchenden ein authentisches Erlebnis zu bieten, das auf den Prinzipien des Respekts, des Austauschs und des gegenseitigen Verständnisses basiert.

Lokale Gemeinschaften wirken unmittelbar in die Planung und Durchführung der Tourismusaktivitäten ein. Dadurch behalten sie die Kontrolle über ihre Ressourcen und können gleichzeitig von den Einnahmen profitieren. Diese Ansätze fördern nachhaltigen Tourismus, der die Umwelt schützt und zur Erhaltung der lokalen Kultur beiträgt.

Und natürlich macht „buen vivir“ auch vor dem Anbau von Lebensmitteln nicht halt. In einigen Regionen Lateinamerikas setzen sich Bewegungen für landwirtschaftliche Methoden ein, die mit der Natur im Einklang stehen und die lokale Kontrolle, Produktion und Verteilung von Lebensmitteln stärken.

Industrielle Methoden und große Agrarunternehmen lehnen sie ab. Stattdessen bevorzugen sie traditionelle Praktiken, die Biodiversität fördern, die Bodengesundheit verbessern und die Gemeinschaften ermächtigen. Und auch in urbanen Regionen soll es mehr Grün und mehr unversiegelte Flächen geben, damit die Natur zwischen dem Beton atmen kann.

Unsere Lebensweise hinterfragen

In der Theorie klingt „buen vivir“ nach dem Rezept für eine perfekte Welt. Doch in der Umsetzung gerät das Konzept schnell an seine Grenzen. Dass der Natur auch Rechte zukommen könnten, erscheint im Westen abwegig. Das globale, neoliberale Wirtschaftssystem interessiert sich wenig für Pachamama, dafür umso mehr für ihre Ressourcen.

Und so fordert „buen vivir“, auf sehr stille Art und Weise, ein Umdenken in Politik und Wirtschaft. Unkontrolliertes Wachstum und extremes Konsumdenken sollen, so die Verfechter von „buen vivir“, gegen eine verantwortungsvollere, gerechtere und nachhaltigere Lebensweise ersetzt werden. „Buen vivir“ fordert alle auf, ihr Verhalten grundsätzlich zu durchdenken – damit wir alle ein gutes Leben führen können.

Die Idee hinter „buen vivir“ rückt den Menschen wieder an einen weniger egozentrischen Platz im Universum. Und vielleicht kann unsere Spezies dort ja glücklicher werden. Denn in der westlichen Wachstumsgesellschaft scheint das gar nicht so einfach zu sein.

Auch wenn die Vorschläge des „buen vivir“ recht abstrakt klingen, können sie dennoch Anregungen geben, unsere aktuelle Wirtschafts- und Lebensweise kritisch zu hinterfragen. Und vielleicht können wir so eine Welt schaffen, um Pachamama stolz zu machen.

 

Ines Maria Eckermann machte einen Doktor in Philosophie. Nebenbei heuerte sie als freie Mitarbeiterin bei verschiedenen Medien an und engagiert sich im Umweltschutz.

 

 

 

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