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Bürgerbeteiligung: Bessere Entscheidungen treffen

Wonderlane/ Unsplash
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Interview über partizipative Prozesse

Bürgerbeteiligung ist ein schönes Ideal, doch wie geht das ganz konkret? Jascha Rohr begleitet als Moderator partizipative Prozesse. Er spricht im Interview über schöpferische Prozesse in Gruppen und neue Wege, kollektiv bessere Entscheidungen zu treffen.

Das Gespräch führte Mike Kauschke

Sie arbeiten als Prozessgestalter und konzipieren in Institutionen und Unternehmen partizipative Räume für Dialog und Entscheidungsfindung. Auf welche Weise gehen Sie anders an solche Prozesse heran?

Jascha Rohr: Das Wichtigste ist die Qualität der Beziehung zwischen den Menschen. Deshalb geht es bei uns darum, Räume zu schaffen, wo Menschen, Dinge, Orte, Konzepte in Resonanz miteinander kommen.

Wir haben z. B. in Berlin mehrere Jahre die Stadtwerkstatt Berlin-Mitte betrieben. Da ging es darum, mit Bürgerinnen und Bürgern an der Stadtentwicklung ihres Bezirks zu arbeiten. Es fängt mit dem Raum in dem man arbeitet an.

Die Stadtwerkstatt war so eingerichtet, dass man gerne hinkommt, kreativ ist und Kommunikation leichtfällt. Weiter gibt es eine zeitliche Komponente. Wir überlegen genau, wie oft die Leute zusammenkommen müssen, damit der Faden nicht abreißt und das Gespräch und die Innovationen weitergehen.

Ganz wichtig ist die zwischenmenschliche Ebene: Dazu gehört auch, sich in seinem Schmerz, in seinen Ängsten, in seiner Lust und Freude, in seiner Kreativität und seinen Visionen zu öffnen. Dazu ist ein Rahmen erforderlich, in dem die Menschen sich sicher fühlen, um mutig zu sein.

Es verändert die Atmosphäre zwischen den Menschen, wenn man neben den Fachthemen einen Platz findet, um wichtige Erfahrungen, schöne Geschichten oder auch schwierige Erlebnisse miteinander zu teilen. Davon ausgehend kann man fragen, was wir aus diesen Geschichten lernen, und wie sie den Entwurf, die zukünftige Entwicklung beeinflussen.

Vorschläge, die aus mehreren Perspektiven erarbeitet werden, tragen besser.

Wie begleiten Sie den Prozess so, dass aus der Vielzahl der Erfahrungen, Ideen, Vorschläge und Impulse, eine Entscheidung entsteht, die von allen getragen wird?

Jascha Rohr: Dafür ist die Unterscheidung zwischen deliberativer und kokreativer Partizipation wichtig. Deliberative Partizipation bedeutet Debatten oder Dialoge, in denen man miteinander Meinungsbildung betreibt, Empfehlungen ausarbeitet, Forderungen stellt oder Entscheidungen vorbereitet.

Wir hingegen arbeiten gestalterisch. Das Ideal ist, dass wir miteinander in eine Auseinandersetzung gehen, die Resonanz und kreative Innovationen erzeugt. Daraus entstehen für die jeweiligen Herausforderungen, Probleme oder Fragestellungen die entsprechenden Lösungen und Entwürfe.

Können Sie ein Beispiel geben für ein Projekt, wo sich der in dieser Situation bestmögliche Entwurf so gezeigt hat?

Jascha Rohr: Bei dem Projekt „Frankfurt macht Schule“ haben wir über ein Jahr lang einen Schulentwicklungsprozess begleitet. Das war eine politisch aufgeheizte Situation. Wir haben mit allen Akteuren der Bildungslandschaft zusammengearbeitet: den Ämtern, Lehrer:innen, Schüler:innen, Gewerkschaften, politischen Fraktionen im Magistrat und sogar dem hessischen Kultusministerium.

Im Laufe der Arbeit sind ein gemeinsames Verständnis, gemeinsame Erkenntnisse und Teilentwürfe entstanden, die dann ausgearbeitet wurden. Am Ende gab es ein Entwicklungskonzept für die Frankfurter Bildungslandschaft.

Alle Einzelentscheidungen fachlicher Art waren in diesem Konzept enthalten, so dass es vom Magistrat einstimmig angenommen wurde. Das gab es vorher noch nie in der Geschichte der der hessischen Bildungslandschaft.

Die Kraft eines partizipativen kokreativen Ansatzes liegt darin, dass alle als Gestalterinnen an den Entwürfen aktiv beteiligt sind.

Jascha Rohr: Ja, im Idealfall wird auch die Agenda oder Fragestellung von den Beteiligten bestimmt. Aber das ist leider nicht immer die Regel weil die auftraggebenden Stellen oft davor scheuen, Einfluss abzugeben.

Aber auch in solchen Situationen kann am Ende ein Entwurf entstehen, der eine viel höhere Qualität hat als ein Vorschlag, der ohne Beteiligung und übergreifende Zusammenarbeit entwickelt wurde. Vorschläge, die nur eine Perspektive beinhalten, können nicht die Tiefe, Durchdringung und Innovation beinhalten, die man in einem Prozess mit vielen unterschiedlichen Akteuren erarbeitet.

In der Klimakrise müssen wir kollektiv eine Entscheidung treffen.

Welche Hindernisse kann es in solchen Prozessen geben?

Jascha Rohr: Wenn sich viele Menschen aus unterschiedlichen Perspektiven über einen Kontext verständigen wollen, dann gibt es häufig dieses Krisenmoment:

So kann es Menschen geben, die nicht mitmachen wollen, manchmal sind es finanzielle Probleme, konzeptionelle Meinungsverschiedenheiten, systemische Grenzen oder schwierige gesellschaftliche Rahmenbedingungen.

Das sind Momente der Krise, in denen man eine Entscheidung treffen muss: Arbeiten wir mit den gegenwärtigen Strukturen oder versuchen wir miteinander in ein komplett neues Paradigma zu finden?

Das führt zu transformativen Momenten, wo ich alte Dinge hinter mir lasse und mich unbekannten, neuen Lösungen zuwende. Wir alle kennen das aus Lebenskrisen. Irgendwann kommt der Moment, in dem ich die Entscheidung treffe, die Dinge von jetzt an anders zu sehen. Und dann öffnet sich der Horizont und ich komme wieder ins Spielen, in den Flow. Es kommen Lösungen, die ich aus dem bisherigen Paradigma nicht sehen konnte.

Kann das auch bei den großen Herausforderungen unserer Zeit geschehen?

Jascha Rohr: Gesellschaftlich stehen wir gerade an einem Krisenmoment, wenn wir zum Beispiel auf den Klimawandel schauen. Die einen reagieren auf diese Krise mit Verdrängung und fahren erst Recht mit dem großen Auto durch die Stadt; andere gehen in den Kampfmodus und kleben sich auf der Straße fest.

Dort stoßen dann beide Strategien aufeinander und eskalieren. Was wir brauchen, sind aber kreative, unsere Gesellschaft in gesunder Weise regulierende Lösungen. Das wäre Aufgabe der Politik, aber auch die ist schnell überfordert.

Wir laufen daher als Gesellschaft auf einen Punkt zu, wo wir kollektiv eine Entscheidung treffen müssen: weiter so wie bisher, Eskalation oder Paradigmenwandel und Transformation? Wenn eine solche Entscheidung getroffen ist, öffnet das die Tür für emergenten Entwürfe, also für Lösungen, die wir jetzt mitten in der Krise noch gar nicht sehen.

Die Orientierungslosigkeit, die wir dabei gerade empfinden müssen wir aushalten. Sie ist ein ganz normales Gefühl in der Krise und Transformation: als Gesellschaft und individuell. Transformation kann man nicht machen. Wir können sie nicht steuern, nicht kontrollieren, aber wir können Räume und Prozesse schaffen, in dem sich die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass diese Transformation stattfinden kann. Das ist meine Arbeit.

Manchmal setzt eine spielerische Selbstvergessenheit ein.

Wie wird dieser Moment wahrscheinlicher?

Jascha Rohr: Wenn wir den Prozess bewusst gestalten und begleiten, ohne ihn zu kontrollieren. Nehmen wir als Beispiel eine Veranstaltung, wo es um eine Sache geht, von der ich betroffen bin, etwa auf kommunaler Ebene. Üblicherweise komme ich mit der Absicht, mich mit meiner Meinung durchzusetzen.

Wenn es eine Prozessbegleitung gibt, die verdeutlicht, dass es um die beste gemeinsame Idee oder Lösung geht und nicht um eine Entscheidung zwischen schon vorhandenen Partikularinteressen, dann entsteht ein anderer Prozess. Das, was nun zählt, ist Kreativität, Innovation und Lösungsfindungskompetenz. Das setzt Hierarchien und eingespielte Rollen in Bewegung.

Statt der Agenda meiner Partei oder meiner Interessensgruppe steht also der gemeinsame schöpferische Prozess im Vordergrund.

Jascha Rohr: Ja, wenn so ein Prozess wirklich gut funktioniert, dann setzt eine fast spielerische Selbstvergessenheit ein. Wir haben Ideen entwickelt, wir waren schöpferisch tätig, haben etwas miteinander gestaltet. Selbst wenn das Ergebnis ganz anders geworden ist, als ursprünglich von mir gewollt, erkenne ich den Sinn in der neuen Lösung, weil sich während der Entwicklung ein gemeinsames Verständnis entwickeln konnte.

Ich habe das viele Male erlebt. Nicht immer erreicht man dieses Ideal zu 100 Prozent, aber die Ergebnisse und die gemeinsame Basis sind immer stärker als in einem Prozess, der Kompromiss oder Entscheidungen zwischen schon bekannten politischen Positionen erreichen möchte.

Das Schöne an dieser Arbeit ist, dass wir als Begleiter:innen selbst auch immer wieder in diese Prozesse geworfen werden und an ihnen wachsen. Es ist eine unglaublich vielfältige Arbeit und jeder Prozess ist neu. Und jedes Mal beinhaltet diese Arbeit auch eine eigene Transformation und Entwicklung. Und Transformation ist der Weg zu einer schöneren, besseren Welt.

Foto: IPG

Jascha Rohr ist Philosoph, Sozialunternehmer, Entwickler und Moderator partizipativer und kokreativer Gestaltungsprozesse. Er ist Gründer und Geschäftsführer des Instituts für Partizipatives Gestalten und Vorstand der Cocreation Foundation sowie Autor von “Die Große Kokreation. Eine Werkstatt für alle, die nicht mehr untergehen wollen“, ‎ Murmann Publishers 2023

www.partizipativ-gestalten.de

www.cocreation-foundation.org

www.jascha-rohr.de

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