Ein Standpunkt von Birgit Stratmann
Die Corona-Krise zeigt, wie verwundbar wir sind. Individualität kann keine Antwort sein, meint Birgit Stratmann, denn wir sind alle voneinander abhängig. Es geht um Solidarität, u.a. durch das Vermeiden sozialer Kontakte, und gegenseitige Unterstützung.
Das Corona-Virus grassiert mittlerweile in über 100 Ländern und die Welt, wie wir sie kennen, scheint aus den Fugen zu geraten. Viele Menschen weltweit stellt die Situation auf eine harte Probe, vor allem angesichts der exponentiellen Verbreitung. In einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung, überschrieben mit „Die Wucht der großen Zahl“ (1) ist dies eindringlich erklärt worden. Beim exponentiellen Wachstum findet in einem festen Zeitraum jeweils eine Verdopplung der Fallzahl statt.
Die Autoren vergleichen dies mit der Legende vom Erfinder des Schachspiels, „der von einem indischen König erbat, in Reiskörnern entlohnt zu werden: Ein Korn für das erste Feld des Schachbretts und von da an immer doppelt so viele – zwei für das zweite Feld, vier für das dritte. Nichtsahnend willigte der König ein. Damit hätte er für das letzte Spielfeld eine neunzehnstellige Zahl an Reiskörnern auftreiben müssen, was der globalen Ernte mehrerer Jahrhunderte entspricht.“ (2)
Würde die Pandemie ad hoc einen exponentiellen Verlauf nehmen – d.h. wenn wir jetzt nichts unternehmen, um die Ausbreitung zu verlangsamen, „dann wären spätestens Mitte Mai mehr als eine Million Menschen in Deutschland mit dem Virus infiziert,“ so die Süddeutsche. Unsere medizinischen Einrichtungen könnten das nicht bewältigen. Schwerstkranke müssten im schlimmsten Fall abgewiesen werden, Ärzte müssten die grausame Entscheidung treffen, wer z.B. ein Beatmungsgerät erhält oder nicht.
Mit Unsicherheit leben
„Vor dem Virus sind wir alle gleich“, schreibt Zukunftsforscher Matthias Horx in einem Essay zur aktuellen Lage. (3) Jeder und jede ist betroffen – die Jungen und Gesunden, weil sie Verantwortung übernehmen müssen, um andere, auch ihre liebsten Verwandten, nicht anzustecken, und Einschränkungen unterliegen. Und die Alten und Schwachen, weil ihr Leben von der Solidarität der anderen abhängen könnte.
Die Pandemie macht demütig. Selten wird uns so plastisch vor Augen geführt, dass wir als Menschen Natur sind: Wir bilden uns zwar ein, autonom zu sein, unabhängig von Mutter Erde, von den Elementen, aber das ist eine Illusion. Unser Körper ist Natur und unterliegt den Gesetzen der Natur und nicht unserem Willen.
Das Leben ist unberechenbar und wir haben es nicht unter Kontrolle. Nicht für alles gibt es technische Lösungen, und auch die Medizin kommt an Grenzen. Wir müssen mit dieser grundlegenden Unsicherheit leben – das wird vielen Menschen jetzt erst einmal wieder bewusst. Und vielleicht haben wir jetzt die Zeit, tiefer über das Leben nachzudenken, wenn das äußere Leben mehr und mehr zum Erliegen kommt. Es mag sogar gelingen, uns in die Unsicherheit hinein zu öffnen und sich vom Leben überraschen zu lassen.
Die Pandemie zeigt schmerzlich, wie verwundbar wir sind. Selbst der Reichtum in Europa, das Kapital, der Staat, das soziale Netz, das uns im Notfall auffängt, Computer und Künstliche Intelligenz: Sie alle können uns nicht unsere Verletzlichkeit nehmen. Und auch „Human Enhancement“, also die Optimierung des menschlichen Körpers und der geistigen Fähigkeiten mit Hilfe neue Technologien, kann angesichts dieser Katastrophe nichts ausrichten. Der Mensch ist plötzlich wieder Mensch, ein ganz normales sterbliches Wesen.
Das Fatale ist nur, dass wir unsere Zerbrechlichkeit, das Altern, Schwäche und Verfall weitesgehend aus dem öffentlichen Leben verbannt haben. Jugendwahn, Selbstoptimierung bis ins hohe Alter, Selbstdarstellung in sozialen Medien verdecken das, was hinter der Oberfläche ist. Jetzt haben wir Zeit, tiefer zu schauen.
Individualität war gestern
Unsere Leben in der globalisierten Welt sind eng miteinander verknüpft. Das ist eigentlich eine Binsenweisheit und wir denken nur selten darüber nach. Doch jetzt, angesichts der Pandemie wird diese Erkenntnis unübersehbar. Antibiotika und andere lebenswichtige Medikamente kommen mehrheitlich aus China und Indien. Schutzkleidung muss importiert werden. Firmen können nicht mehr arbeiten, wenn Zulieferer nicht mehr produzieren. Über die Hälfte der Firmen in Deutschland gibt an, in ihrer Arbeit von dem Virus betroffen zu sein. Unzählige kleine Selbstständige – Künstler, Kneipen- und Café-Besitzer, Dolmetscher sind in ihrer Existenz bedroht.
Krisen wie diese zeigen, dass es nicht weit her ist mit unserer heiß geliebten und eifrig verteidigten Individualität. In diesen Zeiten können wir nicht auf unsere individuelle Freiheit pochen und einfach weiterleben wie zuvor. „Wir müssen unsere Gewohnheiten ändern – und zwar sofort“, forderte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 12. März 2020. Jetzt ist die Zeit für Gemeinsinn und Solidarität, für gegenseitigen Beistand.
Das sickert langsam ins Bewusstsein. War zu Beginn der Krise in Deutschland oft von „Hysterie, die von den Medien geschürt wird“ die Rede und von „Überreaktionen“ der Politik, so wächst mit jedem Tag, an dem die Fallzahlen steigen, die Akzeptanz für die vielen Maßnahmen, die uns das Leben schwer machen.
Wir sind aufeinander angewiesen
Langsam dämmert uns, dass wir Menschen miteinander verbunden und aufeinander angewiesen sind, auch auf Menschen, die wir gar nicht kennen. Wir sind eingebunden in soziale Strukturen – lokal und global. Und so sind wir jetzt aufgefordert, im Sinne des Ganzen zu handeln, für alle zu sorgen, die unter der Krise leiden.
Das bedeutet zunächst, dass wir uns selbst zurücknehmen und unsere persönlichen Bedürfnisse zurückstellen. Paradoxerweise besteht die eigentliche Solidarität heute darin, dass wir auf soziale Kontakte so weit wie möglich verzichten. Und möglicherweise werden wir dabei sogar wertvolle Erfahrungen machen. Was vorher undenkbar erschien, nicht zu reisen, nicht zu fliegen, nicht unterwegs zu sein geht nun doch und eröffnet neue, andere Möglichkeiten.
In einigen Städten Italiens wie in Siena singen und musizieren Menschen abends gemeinsam – jeder in seiner Wohnung bei geöffnetem Fenster oder auf dem Balkon. Vielerorts bilden sich Initiativen der Nachbarschaftshilfe. Eltern schließen sich zusammen, um eine Kinderbetreuung zu koordinieren. Menschen lesen wieder Bücher, sind zu Hause und reden miteinander über das, was sie bewegt. Der Staat ist plötzlich wieder präsent und ergreift viele Maßnahmen, um Menschen zu schützen und zu untertsützen, die regionale Wirtschaft anzukurbeln und Märkte zu regulieren. Der menschlichen Kreativität sind keine Grenzen gesetzt, auch nicht durch das Virus.
Wir haben jetzt die Chance, neue Gewohnheiten zu entwickeln und füreinander zu sorgen, privat und gesellschaftlich. Diese Gewohnheiten können wir in die Zeit nach Corona mitnehmen: dass wir nur gemeinsam stark sind, aufeinander Rücksicht nehmen müssen. Dass nicht Leistung, Wettbewerb und Erfolg zählen, nicht Stärke und Selbstdarstellung, sondern Menschlichkeit, Solidarität und Verantwortungsbewusstsein. Aus dieser Haltung können neue Formen der Kooperation und gegenseitigen Hilfe entstehen.
Wenn die Corona-Krise diese Einsicht in uns reifen lässt, hätte sie noch einen Sinn gehabt. Und wir könnten danach auch die großen Herausforderungen der Menschheit wie die Klimakrise und die Flüchtlingsthematik solidarisch und gemeinsam lösen.
Birgit Stratmann
Quellennachweise:
(1) und (2) Süddeutsche Zeitung online, 10. März 2020
(3) Matthias Horx: Corona – Eine Resilienzübung
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Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung