Gedanken zu den Corona-Regeln
Margrit Irgang, Schriftstellerin und Meditationslehrerin, ist besorgt, dass Menschen in ihrem Umfeld die Corona-Regeln ablehnen. Sie kritisiert ein falsches Verständnis von Freiheit. Da wir alle miteinander verbunden sind, spiele es eine große Rolle, wie ein einzelner Mensch sich verhält.
Ich bin ratlos und traurig. In meinem Umkreis gibt es zunehmend mehr Menschen, die sich weigern, Masken zu tragen. Sie sagen, sie fühlten sich durch die Maßnahmen der Politik zur Eindämmung der Pandemie in ihrer Freiheit eingeschränkt. Sie sähen, sagen sie, unsere Grundrechte in Gefahr. Auf Demonstrationen werden Schilder hochgehalten, auf denen zum Beispiel steht “Für unsere Freiheit gegen Merkels DDR”.
Nun haben wir es beim Corona-Virus mit einer abstrakten und unsichtbaren Gefahr zu tun, von der wir alle nicht mit Sicherheit sagen können, wie groß sie ist oder werden wird. Und einige der Regierungsbeschlüsse sind durchaus fragwürdig – aus meiner Sicht vor allem die Milliarden, die jetzt zur Ankurbelung eines schon vorher unsinnigen Konsums ausgegeben werden, während die Künstler und die Kultur schlichtweg vergessen werden.
Aber die Argumentation der Maskenverweigerer funktioniert nur, weil sie gleichzeitig die Gefährlichkeit des Virus und die Kompetenz der Fachleute anzweifeln. So bleibt ihr Freiheitsbegriff unangetastet und sie müssen sich nicht der Frage stellen, ob hier vielleicht Freiheit mit Egozentrik verwechselt wird.
„Dein Körper gehört nicht dir“
Meine Mutter und mein Stiefvater waren starke Raucher. Nach dem Krieg lebten wir in einem Zimmer. Nein, das war keine Einzimmer-Wohnung, nur ein Zimmer für absolut alles, was man so tut, wenn man zu Hause ist. Ich wuchs auf inmitten blauer Rauchschwaden; kein Mensch kam damals auf die Idee, dass hier die Gesundheit eines Kindes geschädigt wurde.
Die später allgegenwärtige Marlboro-Werbung mit dem Cowboy machte mir klar, worum es dabei ging: “Der Geschmack der Freiheit” war nach den Entbehrungen des Krieges einfach zu verlockend.
In meinem ersten Studienjahr beim vietnamesischen Meditationslehrer und Friedensaktivisten Thich Nhât Hanh sagte er einen Satz, der bei vielen Zuhörern großen Widerstand auslöste: “Dein Körper gehört nicht dir.”
Da alles mit allem verbunden ist und Grenzen zwischen uns und der Natur nicht existieren, ist es nicht egal, wie ich mit meinem Körper umgehe. Wie ich ihn ernähre, pflege, welchen Risiken ich ihn aussetze. Es geht nicht nur um mich, es geht immer um das Ganze.
„Wir alle sind Teil der zweiten Welle“
Wenn man einen Gewährsmann zum Thema Freiheit befragen möchte, sollte man vielleicht Nelson Mandela wählen. Dieser große Friedens- und Freiheitspolitiker hat immer betont, dass er sich im Gefängnis die innere Freiheit bewahrt hat. Und auch dies hat er gesagt: “Sich ernsthaft um andere zu sorgen, sowohl im privaten wie im öffentlichen Leben, würde uns der Welt, nach der wir uns sehnen, sehr viel näher bringen.”
Thich Nhât Hanh wiederum hat einst im Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses in Maryland ein Retreat gegeben mit dem Titel “Frei sein, wo immer du bist”. Und er wurde nie müde, uns daran zu erinnern: “Freisein ist unsere Praxis”. Denn Freiheit ist nicht “dort draußen”, sie ist kein Zustand, der uns gewährt und wieder genommen werden kann. Sie ist ein Geisteszustand.
Isabella Eckerle, die Leiterin des Zentrums für Virenerkrankungen an der Universität Genf, sagt, warum wir es jetzt nur gemeinsam schaffen können: “Wir alle sind ein Teil dieser zweiten Welle. Denn das Virus braucht immer einen Wirt, um zu überleben und sich zu vermehren. Es ist auf eine kontinuierliche Weiterübertragung angewiesen. Nur wenn es immer wieder von einem Menschen zum anderen überspringt, bleiben Infektionsketten aufrechterhalten. Sobald ein Infizierter in der hochinfektiösen Phase niemand anderem nahekommt, bricht die Infektionskette ab und das Virus verschwindet in dieser Sackgasse.”
Und immer noch reiten die Cowboys ohne Masken über die Plätze der Stadt auf der Suche nach dem Geschmack der Freiheit.
„Wir sind wichtig“
Noch etwas ist hier wichtig. In Neuseeland ordnete Premierministerin Jacinda Ardern im Frühjahr einen nahezu kompletten Lockdown an; die Bürgerinnen und Bürger sahen die Notwendigkeit ein und setzten alle Anordnungen ohne Widerspruch um. In Frankreich gab es weit drastischere Einschränkungen als in Deutschland, jetzt folgen Wales und Belgien, um nur einige zu nennen. Ich höre wenig von Demonstrationen dort gegen die von der Politik verhängten Maßnahmen.
Aber in Deutschland ist die Vergangenheit noch längst nicht vergangen. Da gibt es einerseits die Rechtspopulisten, die das Virus für ihre Zwecke missbrauchen. Da ist bei anderen, sehr viel klügeren Menschen das Misstrauen gegen Anordnungen “von oben” und die Sorge darum, die mühsam errungene Demokratie dauerhaft zu verspielen.
Die Sorge ist gut. Sie ist wichtig. Aber wir müssen lernen, jeden Einzelfall genau zu betrachten und zu differenzieren. Wenn wir einfach nur “dagegen” sind, reagieren wir aus dem Urgrund des kollektiven Traumas heraus, das in Deutschland lebendiger ist, als die meisten es wahrhaben wollen. Und blinde Reaktion ist nicht dasselbe wie kreative Antwort.
Wir sind Teil des kollektiven Traumas und Teil des kollektiven Immunsystems. Ich weiß, dass es nicht leicht ist, beides gleichzeitig zu balancieren. Aber nur Mut, es wird gehen. Wie wir in den nächsten Monaten unser persönliches Leben leben, ist entscheidend. Sorgen wir uns ernsthaft um andere? Das würde viel ausmachen.
Wir sind wichtig, jede und jeder von uns. Das ist doch mal eine gute Botschaft.
Margrit Irgang erhielt für ihre Erzählungen und Gedichte etliche Literaturpreise. Seit 1984 praktiziert sie Zen, seit 1992 bei Thich Nhât Hanh. Inspiriert haben sie auch ihre Begegnungen mit Jiddu Krishnamurti, Adyashanti, Kiichi Nagaya Roshi und Joan Halifax Roshi. Seit über 20 Jahren gibt sie Meditations-Retreats.
Auf ihrem Blog www.margrit-irgang.blogspot.de erkundet sie „die Poesie des Augenblicks“.