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Das Leiden berühren

National Cancer Institute/ Unsplash
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Interview über Achtsamkeit bei Krebs

Die Diagnose Krebs ist ein großer Einschnitt im Leben eines Menschen. Die Körperpsychotherapeutin Renate Kommert gibt Achtsamkeitskurse für Krebs-Patienten. Im Interview erzählt sie, wie Achtsamkeit helfen kann, sich dem Unangenehmen mitfühlend zuzuwenden, um Mut zu schöpfen.

Renate Kommer ist Körperpsychotherapeutin sowie MBSR-Lehrerin und -Ausbilderin. Im Rahmen einer aktuell durchgeführten Studie des Universitätsklinikums Hamburg Eppendorf bietet sie Achtsamkeitskurse für Krebs-Patienten an.

Das Gespräch führte Birgit Stratmann

Frage: Stressbewältigung durch Achtsamkeit (MBSR) wurde ursprünglich für das Berufsleben entwickelt, um besser mit Stress umzugehen. Was ist anders, wenn Kurse für Krebs-Patienten angeboten werden?

Kommert: In diesem speziellen Kurs sind alle Teilnehmenden an Krebs erkrankt. Sie haben eine lebensbedrohliche Diagnose. Sie haben erlebt, wie sie den Boden unter den Füßen verloren. Angst und traumatische Erfahrungen steht für alle im Raum.

Im MBSR-Kurs gibt es viel Austausch, sogenannte Dyaden, also Zwiegespräche mit einem bestimmten Ablauf. In Kursen mit Krebskranken werden diese Gespräch an ihre Bedürfnisse angepasst. Weil alle ähnlichen Schwierigkeiten ausgesetzt sind, können sie offener sprechen und sich zeigen. Durch die Gemeinschaft entsteht ein Klima des Mitgefühls, das als stärkend erfahren wird.

Achtsamkeit lädt dazu ein, alles willkommen zu heißen.

Sie arbeiten an einer wissenschaftliche Studie am Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf, UKE mit. Worum geht es da?

Kommert: Es geht darum herauszufinden, ob Krebskranke mit kognitiven Beschwerden durch einen MBSR-Kurs Hilfe finden können. Gelingt es ihnen, besser mit ihren Einschränkungen umzugehen? Kann die Konzentrationsfähigkeit gestärkt werden?

Die Studie wird mit 190 Personen gemacht, mit Kontrollgruppe. Eine Gruppe nimmt am Online-Kurs zur Achtsamkeit teil, die andere Gruppe wartet drei Monate. Beide werden untersucht, danach erhält die 2. Gruppe den Kurs.

Was sind die Herausforderungen?

Kommert: Bei den Krebs-Patienten gibt es einige Besonderheiten, z.B. die Fatigue, eine extreme Müdigkeit, die als Folge von Operation, Chemotherapie oder Bestrahlung auftreten kann. Auch haben viele große Widerstände gegen das Leiden. In der Achtsamkeit lernen sie, alles willkommen zu heißen. Das ist nicht so einfach.

Die Menschen haben große Probleme damit, alle Empfindungen, vor allem die unangenehmen, zu akzeptieren. Also musste ich mir Gedanken machen, was ich verändern kann. Zum Beispiel machen wir den klassischen Bodyscan etwas anders, mit Bewegungen.

Auch habe ich einen mitfühlenden Bodyscan entwickelt, wo wir uns dem Unangenehmen mitfühlend zuwenden. Krebskranke haben viele unangenehme Empfindungen, zum Beispiel Missempfindugen in Händen und Füßen. Wenn man nur dahin spürt, kann der Widerstand noch größer werden. Es ist besser, hier das Mitgefühl zu integrieren und sich diesem Schmerz zuzuwenden.

Achtsamkeit wird als stärkend empfunden.

Wie ist es mit der Sitzmeditation. Ist es nicht herausfordernd zu meditieren, wenn man Ängste und Schmerzen hat?

Kommert: Im Rahmen von MBSR üben wir in der Sitzmeditation auch “Das Sitzen mit dem Unangenehmen”. Das kann man im Gehen, Stehen oder Liegen tun.

Die Frage ist, welche Haltung habe ich zu unangenehmen Empfindungen? In einer Übung erforschen wir den Schmerz, wir spüren, wie sich der Bereich anfühlt, der weh tut. Oder wir lenken den Atem in die Körperregionen, um den Schmerz liebevoll zu halten. Er kann in einer mitfühlenden Hinwendung gehalten werden. Weiter dehnen wir die Aufmerksamkeit auf den ganzen Körper aus, denn viele andere Körperregionen fühlen sich gut und schmerzfrei an.

Was sind die größten Herausforderungen für die Patienten?

Kommert: Die größte Herausforderung liegt darin, jeden Tag 45 Minuten zu praktizieren, wie es das Programm vorsieht. Denn dann kann man die heilsamen Wirkungen am besten erfahren. Die Betroffenen haben vielleicht die Motivation, aber wenig Zeit. Sie haben viele Arzttermine, müssen noch Sport treiben und der Organismus ist geschwächt.

Was sind die größten Herausforderungen für Sie als Lehrerin?

Kommert: Die Widerstände der Teilnehmer gegen Leiden und unangenehme Gefühle. Viele wollen diese Gefühle nicht berühren, obwohl sie da sind. Ich muss lernen, meinen Raum des Mitgefühls immer weiter auszudehnen. Das Leid ist sehr groß.

Wie bewerten die Teilnehmer den Kurs?

Kommert: 95 Prozent der Teilnehmer gehen gestärkt aus dem Achtsamkeitskurs hervor, das melden sie mir zurück. Das Wichtigste ist die liebevolle Hinwendung zu sich selbst, das heißt, sich annehmen, wie man ist, egal, ob ich gerade heiter bin, am Boden zerstört oder gedanklich die Orientierung verloren habe. Die Menschen wissen sich jetzt zu helfen. Sie halten inne, schenken sich liebende Güte, das hat eine starke Kraft.

Das Leiden zu berühren, schenkt innere Freiheit.

Es ist eine der schwierigsten Übungen im Leben, leidvolle Situationen zu meistern, ohne in Schwermut oder Verbitterung abzugleiten. Ist es nicht auch eine Überforderung, in solchen Situationen Akzeptanz zu entwickeln und gelassen zu bleiben?

Kommert: Ich glaube das nicht. Die Grundlage ist, in einer liebevollen, gütigen Haltung auch an die Niedergedrücktheit heranzugehen. Die Gefühle dürfen da sein: die Angst, die Schwermut, das ist Teil unseres menschlichen Lebens.

Achtsamkeit bedeutet hinzuschauen und nicht, etwas weg haben zu wollen. Es bedeutet auch, die Freiheit zu haben, das, was ich gesehen habe, erst einmal wieder auszublenden. Ah, da ist Angst, das ist nicht der rechte Zeitpunkt für die Meditation. Besser ist es dann, nach draußen zu gehen, sich erden, Anker im Außen suchen, sich bewegen, weg von der Innenschau.

Man sollte keine formale Praxis machen, wenn man von Schmerzen oder einer depressiven Welle überrollt wird. Ich hatte neulich eine Teilnehmerin, die so starke Schmerzen hatte, dass sie den Kurs am Abend unterbrechen und gleich in die Notaufnahme des Krankenhauses gehen musste.

Und genau das sollten wir tun: uns die Hilfe suchen, die wir jetzt brauchen. Das gilt auch für die Praxis zu Hause. Wenn wir den Eindruck haben, dass die Meditation zu viel in uns aufwühlt, dann machen wir etwas anderes: spazieren gehen, Sport treiben, einen Freund anrufen – aber nicht im Leiden festsitzen. Das ist keine Lösung.

Sie sind auch Körperpsychotherapeutin und bringen viel mehr mit als MBSR-Lehrer, die diesen Hintergrund nicht haben.

Kommert: Ja, ohne den körpertherapeutischen Hintergrund und meine Erfahrungen könnte ich diese Kurse nicht machen. Die Erfahrung erlaubt mir auch eine große Flexibilität. Ich kann mich auf die Menschen einstellen, z.B. wenn sie von schweren körperlichen Beschwerden gezeichnet sind.

Man muss sich klarmachen: Achtsamkeit ist keine Methode, kein Instrument, um irgendetwas zu verbessern oder zu optimieren. Davon haben wir alle schon genug. Achtsamkeit ist eine von Herzensgüte getragene Hinwendung zu Stress und Schmerz. Hinzukommt die Inquiry, die Erforschung der Meditationspraxis, und Gruppengespräche – all das verbindet uns mit uns selbst und mit anderen Menschen.

Welche Chance könnte darin für die Menschen liegen, wenn sie nicht gegen das Leiden ankämpfen?

Kommert: Zuallerst würde ich sagen, dass die Energie unseres Lebens freier fließen kann, die wir sonst im Kampf gegen das Leid verbrauchen. Dann kann die Liebe, Herzenswärme mehr Raum haben, wissend, dass das Leid Teil unseres Menschseins ist. Das Leiden zu berühren und zu halten ist ein Weg in die Freiheit. Nicht mehr ankämpfen ist Freiheit.

Foto: privat

Renate Kommert ist Heilpraktikerin und Körperpsychotherapeutin in Hamburg. Sie arbeitet auch als MBSR-Lehrerin, Ausbilderin und Supervisorin. Seit 30 Jahren ist Renate Kommert in eigener Praxis tätig, Schwerpunkt Therapie und Meditation. www.meditation-hamburg.net

Sie unterrichtet auch im Weisheitstraining des Netzwerks Ethik heute

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Wunderbar formuliert: “Achtsamkeit ist keine Methode, kein Instrument, um irgendetwas zu verbessern oder zu optimieren. Davon haben wir alle schon genug. Achtsamkeit ist eine von Herzensgüte getragene Hinwendung zu Stress und Schmerz.”

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