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Das tiefe Gefühl, zur Erde zu gehören

NASA Commons
NASA Commons

Wie Bilder unseres Planeten die Seele berühren

Was wären wir ohne unsere Erde? Astronauten, die Bilder des Heimatplanten mitbrachten, berichten von tiefgreifenden Erfahrungen: Wie verlassen sie sich im All fühlten, wenn sie so fern der Erde waren. Aber auch über das tiefe Gefühl von Heimat, Schönheit und Einheit. Lesen Sie im Artikel von Geseko von Lüpke, was Astronauten sagen und wie der Blick von oben das Bewusstsein verändert.

Es war am Heiligen Abend 1968, als die Astronauten-Crew aus Jim Lovell, Frank Borman und Bill Anders in die Umlaufbahn des Mondes einschwenkte. Sie sollte den Mond viermal umrunden, bis der Astronaut Bill Anders aus dem Fenster des Raumschiffs blickte. In einem NASA-Video erzählt er ein halbes Jahrhundert später:

„Plötzlich sah ich aus dem Fenster. Und da war dieser fantastische Himmelskörper und ich dachte ‚Holy Moly‘ – ‚Heiliger Bimbam!‘: Über dem Horizont der Mondoberfläche erschien die Erde. Sie war wunderschön. Sie war das Einzige in diesem ganzen dunklen Universum, was Farbe hatte.“ Und er griff zur Kamera.

Die Aufnahmen vom „Earth Rise“ – dem ‚Erd-Aufgang‘ – sollten die wohl berühmtesten Fotos in der Geschichte der Fotografie werden. Bilder der Erde, wie sie über der grauen Mondoberfläche als blaue Perle in die endlose Schwärze des Weltraums steigt. Klein, leuchtend, zart. Ein Bild, das Milliarden Erdlingen bis in die Seele reichte und ein größeres Zuhause zeigte – den Heimatplaneten.

Es waren Bilder, die das öffentliche Bewusstsein verändern sollten, Grundlage für eine neue Identität schufen, Tausende von Umweltinitiativen auslösten – ja, das Welt- und Menschenbild langfristig veränderten. Zig-Tausende von Aufnahmen sind seitdem von der Erde gemacht worden.

Doch was geschah mit den rund 100 Männern und Frauen, die bislang Gelegenheit hatten, die Erde vom Weltall aus mit eigenen Augen zu sehen? Im Moment des Verlassens der Erdatmosphäre wurden sie unerwartet in einen anderen Bewusstseinszustand katapultiert. Die amerikanische ‚Shuttle‘-Pilotin Kathrin Thornton drückte es so aus:

„Die größte Überraschung passierte am Ende des Aufstiegs, wo man innerhalb eines Herzschlags von drei ‘G’ auf null ‘G’ wie ins Leere fällt. Eben noch haben dich die ungeheuren Beschleunigungskräfte in den Sitz gepresst. Und dann plötzlich – nichts mehr!“ Und ihr kanadische Kollegen Marc Garneau ergänzt: „Plötzlich ist es sehr still. Absolute Stille, alles schweigt, alle gucken sich mit großen Augen an. Es war wirklich so, als wären alle plötzlich im Traumzustand gelandet.“

Fern der Erde haben wir das Gefühl, nicht dazu zu gehören.

Der deutsche Experimental-Physiker und Astronaut Reinhard Furrer beschrieb den Konflikt zwischen Wissen und Fühlen: „Auf der Erde sind Sie nicht gewohnt, dass Sie, wenn Sie loslassen, nicht auf die Erde runterfallen. Jetzt sind Sie im Weltall. Und weil Sie schwerelos sind, fallen Sie nicht. Die Kurve, die Sie fliegen, drückt sie nirgendwo hin. […]

Und wenn Sie sich dann sagen ‚Ich bewege mich und die Erde steht still!‘, dann kriegen sie allenfalls das Gefühl, dass Sie tangential an dieser Erde vorbeifliegen und irgendwo im Weltall verschwinden. Das gibt ihnen natürlich sofort das Gefühl: „Ich bin im Weltall draußen! Ich fliege nicht um die Erde herum! Ich gehöre auch nicht mehr dazu!“

Leicht und schwerelos einerseits. Losgelassen, ausgespuckt, abgetrennt, ohne Nabelschnur zu Mutter Erde anderseits. Auf der Reise ins Nirgendwo, Faszination und Schrecken zugleich. Eine nie dagewesene existentielle Situation für Seele und Körper. Das Gehirn versucht, die Situation unter Kontrolle zu bringen und realisiert das Faktische:

„Hier sind Sie in einer Situation, wo Sie, wenn Sie nichts tun, ewig ausgesperrt bleiben. Sie wissen auch intellektuell, dass die Technik funktionieren muss, damit Sie wieder runterkommen und von der Erde angenommen werden. Wenn was schief geht, bleiben Sie draußen – ausgesperrt – Sie kommen nicht mehr zurück. Dessen werden sie sich sofort bewusst. Was übrig bleibt, ist das tiefe Gefühl: Sie gehören nicht mehr dazu!“

In dieser Situation sucht fast jeder Astronaut Orientierung, Anschluss an Gewohntes, Rückbindung zur Erde. Sobald die eng getakteten Arbeitsabläufe es zulassen, wird der Blick nach unten gesucht. Durchs Bullauge der Mondrakete oder das Panoramafenster der Weltraumstation ISS.

Schönheit kennt keine Ländergrenzen.

Das ist der nächste Moment des fassungslosen Staunens. Einerseits zieht da etwas Lebendes vorbei: halbe Kontinente, Weltmeere, Gebirge, die riesige Wolken-Spiralen der Tiefdruckgebiete. Die Ratio erkennt: Afrika, das Mittelmeer, Europa.

Die Seele aber sieht nur Schönheit, keine Ländergrenzen: Nur ein zartblaues Aquarell, ein Kunstwerk aus Formen und Licht, wehende farbige Vorhänge aus Nordlichtern, Feuerwerke aus Gewitter-Blitzen, Wechsel von Tag und Nacht, die funkelnden Lichtermeere der Städte.

Matthias Maurer, deutscher ISS-Astronaut im Mai 2022 nach seiner Rückkehr aus dem All im Bayerischen Rundfunk: „Dieser allererste Blick herunter, das war ein absolut purer Gänsehaut-Moment: Die Erde zu sehen. Zu sehen, wie schnell sie unter einem gleitet und zu spüren: Das alles ist eine Einheit.“

Überwältigung und Gänsehaut angesichts der Schönheit und Diversität, der Ganzheit und Großartigkeit. Und nicht selten religiöse Gefühle, wie sie der saudi-arabische Astronaut Sultan bin Salman al Saud im Film ‚Our Planet Earth‘ beschreibt: “Als ich das erste Mal auf die Erde blickte, ihre blaue Farbe sah und die perfekte Rundung des Horizonts, hörte ich mich ein arabisches Wort sagen: ‘Subhanallah!’ – was so viel heißt wie: ‚Gott ist groß!‘

So kann sich beim Blick auf die Erde beides gleichzeitig ergeben: das irritierende Gefühl, ausgeschlossen und abgetrennt vom Heimatplaneten zu sein, der einen jenseits der Schwerkraft buchstäblich nicht mehr anzieht. Zugleich ein Gefühl tiefer Berührung, von staunender Ehrfurcht und stiller meditativer Verehrung.

Die Erde ist ein atmender, lebender Organismus.

Astronauten aus allen Kulturen berichten übereinstimmend von tranceähnlichen Zuständen, in denen sie die lebendige Ganzheit des Planeten Erde wahrnehmen: Nicht länger als einen von Ideologien, Nationalismen und rivalisierenden Religionen zerrissenen Kriegsschauplatz, sondern als ‚himmlischen‘ Ort des möglichen Friedens.

Dabei wird die Erde nicht als zufällig mit Leben besiedelter Gesteinsbrocken wahrgenommen, der nur physikalischen Naturgesetzen folgt, sagt im Film ‚Planetary‘ der amerikanische Discovery- und ISS-Astronaut Ron Garan, sondern als lebendigen Organismus.

„Ich verbrachte 2011 ein halbes Jahr an Bord der Internationalen Raumstation ISS. In dieser Zeit nahm ich die Gewohnheit an, der Erde ‚Gute Nacht‘ zu sagen. Ich ging zur ‚Cupola‘, der Aussichtsplattform am hinteren Ende der Station, und schaute zur Erde.

Eines der spannendsten Dinge an einem längeren Aufenthalt im All ist zu sehen, wie sich die Erde im Laufe der Wochen und Monate verändert. Man sieht den Wechsel der Jahreszeiten, wie das Eis aufbricht. Erst aus dieser Perspektive wird einem bewusst, dass die Erde ein lebender, atmender Organismus ist, der durch die dunklen Weiten des Universums rast.“

Totale Stille, während ich mich da draußen über der Erde bewegte.

Wenigen der rund hundert Astronauten und Astronautinnen war es vergönnt, im schützenden Raumanzug über der Erde zu schweben: die Milchstraße im Rücken, die blaue Perle unter sich. Momente der Ehrfurcht und radikalen Selbstreflexion. Rusty Schweikart erlebte das 1968 in kostbaren fünf Minuten technischer Pause, während er still staunend durch den leeren Raum jagte:

„Ich hatte buchstäblich diesen Moment nichts zu tun, außer wahrzunehmen, wo ich gerade war. Kein Geräusch, komplette Stille, während ich mich mit 17.000 Meilen pro Stunde da draußen über der unglaublich schönen Erde bewegte.

Was passiert hier? Was tue ich hier? Wie war ich hierher gekommen? Was bedeutet das alles? Wer bin ich? Wer ist das hier, der da ‚ich‘ sagt? Es war erst später, als ich die Tiefe der Erfahrung und der damit verbundenen Fragen realisierte. In dem Moment ging es nicht um Antworten, nur darum sich der Erfahrung völlig zu öffnen.“

Es scheint, als würde der Blick von außen tatsächlich einen Bewusstseinswandel verursachen, das Selbstbild ändern und Gefühle von Liebe und Ehrfurcht für das Leben selbst wecken. Der das Ego aufzusprengen vermag und die Ganzheit wahrnehmen lässt.

Der deutsche Astronaut Ulrich Walter berichtete vor 20 Jahrennach seinem Flug ins All: „Man kriegt wirklich alles in einem Blick und das verändert das Denken. Und dafür gibt es inzwischen einen Ausdruck: Das ist der berühmte ‚Overview-Effekt‘. Diese Veränderung des Denkens über die Erde löst einen Bewusstseinswandel aus.“

Wer dort oben nur Ganzheit wahrnimmt, dem erscheinen nationale Grenzen, ethnisch, religiöse und territoriale Konflikte völlig absurd. Was der Blick auf die Erde den Raumfahrern emotional stattdessen vermittelt, ist der Eindruck von Grenzenlosigkeit, Ehrfurcht für das Leben und der tiefe Wunsch nach Frieden. Manche Astronauten sprechen von liebendem Mitgefühl zu allem, was da unten ist.

Dieser Planet wird ein schwieriger Ort zum Leben.

Die überwältigende Schau auf die Erde ist dabei in den meisten Fällen ökologisch nachhaltig. Viele Astronauten werden im Weltraum zu Umweltaktivisten, zum Beispiel der kanadische Raumfahrer Marc Garneau, wie er im Film ‚Our Planet Earth‘ erzählt:

„Beim Blick auf Afrika wird Dir die Zunahme der Wüsten bewusst. Über dem Amazonas erschrecken Dich die Rauchwolken, die sich über Hunderttausende von Quadratkilometern erstrecken und wirken, als würde ein ganzer Erdteil in Flammen aufgehen. Und wo die Wälder gefällt sind, ist sichtbar, wie der Humus in die Flüsse fließt, der rot wie Blut wirkt, wenn er sich in die Meere ergießt. Wenn dieses Ausmaß an Zerstörung so weitergeht, wird dieser Planet ein schwieriger Ort zum Überleben.“

Die Raumfahrer stehen mit ihrer Wahrnehmung nicht alleine. Zahlreiche Ökologen, Philosophen und Anthropologen sind davon überzeugt, dass an der Wurzel unserer Krisen eine gefährliche Fehlwahrnehmung aus der Zeit der Aufklärung, zum Beginn der industriellen Revolution liegt: das Bild der Welt als Maschine, die funktioniert wie ein gigantisches Uhrwerk. Und ein Selbstbild des Menschen, der als gottgleich beseeltes, einzig intelligentes Wesen über dieser mechanistischen geistlosen Natur steht.

Die rund 100 menschlichen Pioniere im All bringen eine andere Botschaft mit. Der Astronaut Salman al Saud erzählt: „Du bekommst da draußen im Weltraum beim Blick auf die Erde das erstaunliche Gefühl, dass du all das nicht zu Deinem persönlichen Vorteil erfährst, sondern als ob die Erde Dich als Astronauten benutzt, um sich selbst durch Deine Augen wie im Spiegel anschauen zu können. Man erkennt, dass man als Teil der Erde dort hinausgehen muss.“

Der amerikanische Philosoph Sean Kelly sieht in solchen Momenten ein ‚Erwachen der Erde‘. Kosmologen wie Brian Swimme und Öko-Philosophinnen wie Joanna Macy haben aus diesem großen Bild geschlussfolgert, dass darin der eigentlich wichtigste evolutionäre Schritt der Raumfahrt liegt: Durch die Raumfahrer – so die gewagte These – beginnt die Erde sich selbst wahrzunehmen und ein Bewusstsein ihrer selbst zu entwickeln.

Wir gehören zu diesem Universum.

Diese enorme Weitung geht aber noch weiter, sagte der deutsche Astronaut Reinhard Furrer im April 1988: „Wir reden immer von der Erde und tun so, als sei die Erde die Welt. Damit meinen wir aber nicht die Welt! Die Erdkugel ist ein kleines Planetchen innerhalb der Welt. Jetzt haben wir die Möglichkeit, die Erde zu verlassen und in die Welt zu gehen. Und dann ist das Weltall da. Und die Erde ist ein Teil des Weltalls.“

Erde – Welt – Weltall. Die irdische Sprache kommt im Universum ins Stolpern. Und die Identität versucht sich neu zu sortieren. Die amerikanische ISS-Astronautin Mae Jemison hat die vielfältigen Empfindungen noch weiter hinausgetragen und noch größer fühlen lassen:

„Als ich dort oben war, ist mir etwas Wundervolles passiert. Ich hatte plötzlich das Gefühl, ein Teil des ganzen Universums zu sein. Ich sah mich in einem 10.000 Lichtjahre entfernten Sternensystem. Und hatte das Gefühl, auch dort zu Hause zu sein. Wir sind ein Teil des Universums, genauso wie ein Haufen Sternenstaub oder ein Asteroid. Wir gehören zu diesem Universum.“

Geseko von Lüpke

Infos zum Artikel:

Filmdokumentation: Our Planet Earth – eine filmische Umsetzung des Buches ‚Der Heimatplanet‘, Infos und Download unter: Our Planet Earth

Planetary – Reconnect to something bigger, Bullfrog Films: weareplanetary.com

Videos mit Astronauten

Rusty Schweikart – Free Space Experience

Bill Anders – Apollo 11

Buch: Kelley, Kevin W.: Der Heimatplanet, Zweitausendeins-Verlag, Frankfurt 1989

Dr. Geseko von Lüpke ist freier Journalist und Autor von Publikationen über Naturwissenschaft, nachhaltige Zukunftsgestaltung und ökologische Ethik.

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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