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Demenz – Wenn die Seelenharfe zu klingen beginnt

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Interview über neue Formen im Umgang mit Demenz

Demenz-Kranke verlieren kognitive Fähigkeiten, die Emotionen kommen ungefiltert zum Vorschein. Empathie und Akzeptanz helfen Betroffenen und Pflegenden, Gefühle auszudrücken und unerledigte Lebensthemen zu überwinden. Buchautorin Hildegard Nachum ermutigt im Interview dazu, sich tiefer mit den Betroffenen zu verbinden.

Hildegard Nachum ist Autorin des Buches „Die Weisheit der Demenz. Wegweiser für einen würdevollen Umgang mit desorientierten Menschen“, Kneipp Verlag 2022

Das Gespräch führte Julia Grösch

Frage: „Validation“ ist eine Kommunikationsmethode im Umgang mit Demenz. Was ist das Besondere daran?

Nachum: Validation ist eine Kommunikationsmethode und eine Grundhaltung. Entwickelt wurde sie von der deutschamerikanischen Gerontologin Naomi Feil. Das Wort „validieren“ bedeutet, etwas für „gültig“ zu erklären.

Egal, was der alte, desorientierte Mensch sagt, es ist seine Wirklichkeit und seine Wahrheit. Sagt er, er ist in Gramastetten geboren, in der Geburtsurkunde steht aber Linz, dann ist es für mich gültig. Es hat eine Ursache, warum er das sagt. Vielleicht hat er dort seine erste große Liebe kennengelernt oder sein erstes Eis gegessen.

Dieses Akzeptieren der anderen Welt hilft, Stress zu reduzieren und Vertrauen aufzubauen. Mir ist „Validation“ zum ersten Mal in meiner Ausbildung zur Altenpflegerin, in Österreich heißt das „Fachsozialbetreuerin“, begegnet. Ich habe zunächst aber gar nichts damit anfangen können.

Sie schildern in Ihrem Buch ein Schlüsselerlebnis, das Ihnen bewusst gemacht hat, wie Pflegende oft völlig an den Bedürfnissen und Emotionen von Menschen mit Demenz vorbeireden.

Nachum: Ja, ich habe eine 90jährige Dame beobachtet, die ganz verzweifelt in ihrer schwarzen Handtasche gekramt hat. Dann hat sie mich angeschaut und mich gefragt: „Schwester, kommt mein Vater heute noch?“.

Es kommt recht häufig vor, dass Menschen auf ihrer letzten Lebensreise nach Menschen suchen, die in ihrem Leben positiv oder negativ von Bedeutung waren.

Hildegard Nachum ist spezialisiert auf Validation, eine Kommunikationsform für den Umgang mit Demenzkranken, Foto Eder

Pflegende sind mit solchen Situationen oft überfordert. Wir sind so erzogen, dass wir schnell analysieren, erklären, und die „Wahrheit“ sagen. Dann fallen Sätze wie: „Jetzt rechnen Sie doch einmal nach, wenn Sie neunzig sind, wie alt wäre denn dann ihr Vater? Hundertzwanzig! Das geht doch gar nicht!“. Manchmal wird auch gelogen oder etwas versprochen, wie: „Der Papa kommt schon, der sucht noch einen Parkplatz!“. Oder es wird mit Ablenkungen gearbeitet: „Jetzt kommen Sie doch mal mit, hier gibt es einen guten Kaffee und einen guten Mohnstrudel…“.

Ich habe mich gefragt, wie es mir ergehen würde, wenn ich nach einem geliebten Menschen suchen würde, und man mir stattdessen Mohnstrudel anbietet.

Pflegekräfte scheuen sich oft, sich mit den alten Menschen tiefer zu verbinden.

Was ist aus Sicht der „Validation“ eine angemessene Reaktion auf die Verzweiflung der Dame?

Nachum: Ich habe damals nicht gewusst, was ich sagen soll. Eine Arbeitskollegin hat die Frau aber gekannt und wusste, dass sie in einem sehr autoritären Elternhaus aufgewachsen ist, und der Vater hat sie geschlagen. Am Ende ihres Lebens stand, wie bei vielen alten Menschen, die Sehnsucht nach Versöhnung.

Die „Validation“ würde so darauf reagieren, weder „ja“ noch „nein“ auf die Frage zu antworten, sondern sich das Gefühl anzuschauen. Bei einem Menschen, der sich von der kognitiven Ebene verabschiedet hat, wird die emotionale Ebene stärker.

Wir würden uns auf die emotionale Ebene richten und vielleicht fragen „Fehlt Ihnen der Papa?“ und dann schauen, was kommt und immer weiter begleiten, ohne eine Richtung vorzugeben.

Mein Eindruck ist, dass Kommunikation auf der kognitiven Ebene Menschen mit Demenz, aber auch Pflegenden sehr viel Stress bereitet. Was hindert Pflegende, sich auf die emotionale Ebene einzulassen?

Nachum: Ich glaube, da sind zwei Seiten zu beachten: Einerseits ist es fehlendes Wissen. Validation kommt zwar in der Pflegeausbildung vor, aber wenn sie nicht in der Führungsebene eines Heims verankert ist, wird sie nicht angewendet.

Das größte Hinderniss ist aus meiner Sicht aber: Wenn ich mich auf die emotionale Ebene eines Menschen einlasse, beginnt auch meine eigene Seelenharfe zu klingen. Meine Beobachtung ist, dass sich in der Pflege viele Menschen finden, die gerne ganz praktisch arbeiten, versorgen oder ordnen. Sie scheuen sich aber, sich mit alten Menschen wirklich zu verbinden.

Es sind oft traurige Geschichten, die man zu hören bekommt, die erinnern uns an die eigene Trauer. Ich sehe dann meine eigenen wunden Punkte. Und da ist sehr viel Scheu, damit will man nichts zu tun haben.

Ist es wichtiger, die Seele zu polieren oder die Speichen vom Rollstuhl?

Einen Menschen mit Demenz zu betreuen, ist ja mit sehr viel Verantwortung verbunden. Entsteht daraus eine Tendenz, Menschen mit Demenz zu sehr zu kontrollieren und alles perfekt machen zu wollen?

Nachum: Auf alle Fälle. Wir haben für mich einen falschen Ansatz in der Betreuung der alten Menschen. Wir haben einen Krankenhauscharakter gewonnen, stattdessen sollte es darum gehen, Menschen das Gefühl von „Zuhause“ zu geben.

Hygiene ist beispielsweise gut, aber man muss differenzieren: Ist es wichtiger, die Seele eines Menschen zu polieren oder die Speichen von einem Rollstuhl? Es ist eine Bewusstseinsänderung!

Auszubildene für den Pflegeberuf sind immer begeistert, wenn sie Validation kennen lernen. In der Praxis aber haben sie dann das Gefühl, gegen den Strom zu schwimmen, weil sie hören „Für sowas haben wir keine Zeit!“ Was komplett falsch ist, denn kommunizieren tue ich ja sowieso, es ist derselbe Aufwand!

Ich sage dann immer, wer gegen den Strom schwimmt, kommt zur Quelle, zum Menschen. Ich weiß, das ist mühsam, aber es ist für mein eigenes Menschsein der einzige Weg.

Verändert dieses Bewusstsein auch die eigene Angst vor dem Altwerden und vielleicht auch vor der eigenen Demenz?

Nachum: Aber ja, man sieht das Leben anders. Wenn ich meine seelischen Baustellen anschaue, kann ich auch anders altern. In meinen Seminaren rate ich den Teilnehmern immer, die offenen Baustellen rechtzeitig zu schließen. Man kann vielleicht nicht alles aufarbeiten, aber man kann lernen, einen Schmerz als Begleiter anzunehmen.

Naomi Feil sagt, Demenz ist einerseits eine hirnorganische Veränderung, aber andererseits auch eine Flucht. Wenn mich heute Erlebnisse von früher oder unangenehme Gedanken einholen, kann ich mich ablenken, ich gehe walken oder höre Musik. Aber wenn ich diese kognitiven Strategien nicht mehr habe, dann kommen die Emotionen hoch. Ich sage immer, es ist eine Chance für uns, viel bewusster, viel reflektierter zu leben.

Ich wünsche mir Ehrlichkeit im Umgang mit Demenz-Kranken.

Werden Demenzerkrankungen nachlassen, wenn die Traumata der Kriegsgeneration und der Kriegskinder keine so große Rolle mehr spielen, wie heute?

Nachum: Das glaube ich nicht. Aus meiner Sicht hat jede Generation hat ein globales Thema, das sie aufarbeiten muss. Im Moment haben wir es mit den Kriegskindern und der Nachkriegsgeneration zu tun, und es gibt ja die Theorie, dass diese Traumata, wenn sie nicht aufgearbeitet werden, in die nächste Generation weitergeben werden.

Das zweite, das auf uns zukommt ist das der Migration. Wenn diese Menschen ihre Geschichte, wie sie geflüchtet sind, nicht professionell aufarbeiten können, dann werden auch diese Menschen betroffen sein. Ich erlebe das jetzt schon, dass Menschen, die schon zwanzig Jahre in Österreich leben und Deutsch gelernt haben, in ihrer Demenz wieder in die Muttersprach zurückgehen.

Wir haben hier in Österreich ein Heim in einer Stadt, die ein Schmelzpunkt von Migration ist. Die Pflegedienstleiterin stellt jetzt das Personal aufgrund von Kompetenzen, aber auch aufgrund der Muttersprache ein, denn in dem Heim werden 35 Sprachen gesprochen. Darauf müssten wir uns schon jetzt viel mehr vorbereiten. Da kommt einiges auf uns zu.

Das wirft die Frage auf, ob wir uns als Einzelne vorbereiten können. Haben Sie selbst einen Plan, wie sie als alter, vielleicht dementer Mensch, einmal leben möchten?

Nachum: Ich habe vor, mit einer Freundin in eine Wohngemeinschaft zu ziehen. Meine Kinder wissen beispielsweise, meine Seelenwärme ist die Musik von Leonard Cohen oder Eric Clapton. Das ist wichtig, weil die biographische Musik sehr beruhigend wirken kann, wenn ein Mensch unruhig ist.

Die Kinder wissen auch, dass ich unbedingt Bücher brauche. Ich brauche keine Ordnung, ich brauche Chaos, damit ich mich wohlfühle. Also wir sollten über solche Dinge sprechen, dazu müssen wir aber in Beziehung gehen.

Ich wünsche mir Ehrlichkeit und rate auch Angehörigen zur Ehrlichkeit, also „Sagt mir nicht, ich gehe jetzt in Kur oder in ein Hotel, wenn ich in ein Heim muss.“ Der Mensch weiß, dass das eine Lüge ist.

Wir wissen heute anhand der „Nonnenstudie“, dass Menschen auch mit einer Demenz gut leben können, wenn sie sich die Neugier und die Lust aufs Leben erhalten. Über all das müssen wir uns aber rechtzeitig klar werden. Wir glauben ja, dass wir endlos leben und vergessen, dass das hier kein Probelauf ist, sondern die Uraufführung… Also das ist die Frage: Wie möchte ich alt werden?

Hildegard Nachum ist Politik- und Kommunikationswissenschaftlerin und weltweit eine von siebzehn „Validation Masterinnen“ und Autorin des Buches: „Die Weisheit der Demenz. Wegweiser für einen würdevollen Umgang mit desorientierten Menschen“ (Kneipp Verlag 2022) Sie ist Referentin in der Ausbildung von Pflegekräften und berät Angehörige. www.nachum.at

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