Online Magazin für Ethik und Achtsamkeit

Demokratie lebt von Gespräch und Streitkultur

Trueffelpix/ shutterstock.com
Trueffelpix/ shutterstock.com

Ein Standpunkt von Christoph Quarch

Den Rechtsruck in Deutschland zu beklagen hilft nicht weiter, sagt der Philosoph Christoph Quarch. Wer die Demokratie bewahren will, muss bereit sein, auch mit unliebsamen politischen Gegnern zu reden. Denn die politische Kultur lebt vom Gespräch, vom Ringen um Positionen. Wer das Gespräch verweigert, entwertet die Demokratie.

Deutschland, scheint es, macht den Rechtsruck. Wo gewählt wird, legt derzeit die Rechte zu. Auch im alten Westen. Politiker und Meinungsmacher sind entsetzt. Was aber soll man sagen? Ist nicht längst alles analysiert? Haben nicht die Demoskopen alle Gründe längst ermittelt: Flüchtlingszuzug hier, soziale Ungleichheit dort? Und dennoch herrscht Sprachlosigkeit.

Sie herrscht nicht erst seit gestern. Sie kommt von weiter her. Denn sie ist schleichend bei uns eingezogen. Kaum bemerkt, oft übertönt vom pausenlosen Surren unserer Medien, in denen dauernd alles durchgeredet wird. Kaum wahrnehmbar unter der Oberfläche des Geredes in den Talkshows, kaum hörbar unter den Erklärungen und Statements der Politiker. Es wird sehr viel geredet, es wird fortwährend monologisiert. Doch niemand redet miteinander. Und da liegt das Problem.

Das Politische ist dort, wo Menschen miteinander reden

Was in der politischen Kultur des Landes fehlt, ist das Gespräch. Man redet viel über einander, man redet viel in eigener Sache. Aber man meidet das Gespräch. Es ist eine Epoche der Tabus. Fast unisono klingt der Chor, dem all die Etablierten angehören. Ob rot, ob schwarz, ob gelb, ob grün: Man redet nicht mit denen von der AfD. Man meint nämlich, den Gegner aufzuwerten, wenn man mit ihm redet. In Wahrheit entwertet, wer das Gespräch verweigert, das Politische – und mit ihm die Demokratie.

Was ist das Politische? Das Politische, so lehrt die Philosophin Hannah Arend unter Bezug auf Aristoteles, ist zunächst die Polis: der öffentliche Raum eines Gemeinwesen. Und dieser Raum, das ist entscheidend, ist nicht durch die Mauern einer Stadt oder die Grenzen eines Landes festgelegt.

Die Sphäre des Politischen entsteht ausschließlich dort, wo Menschen miteinander reden. Sie ist der „Raum des Zwischenmenschlichen“, wie Martin Buber lehrte – ein Raum, der sich nur da erschließt, wo Menschen im Gespräch sind. Auch wo sie miteinander streiten.

Politik ereignet sich in der Auseinandersetzung

Die Auseinandersetzung ist präzise das Geschehen, bei dem sich Politik ereignet. Jedoch nicht so, dass die Beteiligten aneinander vorbei oder über einander hinweg redeten, Positionen austauschen und Recht behalten wollen. Sondern nur, indem sie miteinander ringen. Das ist die Essenz der Demokratie.

Denn im kontroversen Gespräch wird allererst sichtbar und hörbar, was der Souverän – das Volk – zu sagen hat. Das mag nicht immer klug sein und gewiss nicht immer wahr. Und doch ist es politisch wichtig. Sich über Meinungen der Masse einfach nur hinweg zusetzen und zu sagen „Mit dem oder dem rede ich nicht!“ verrät den Geist der Demokratie.

Vor allem aber ist der Raum des Zwischenmenschlichen der Raum des Neuen. Nur da, wo Menschen sich im Gespräch begegnen, wo sie ihre Tabus abstreifen und sich die Mühe machen, einander auch dann zuzuhören, wenn es weh tut – nur dann können neue, unerwartete, überraschende Sichtweisen aufkeimen.

Der Raum des Gesprächs ist der Humus des Politischen. In ihm gedeiht das Neue. Wo niemand wagt, sich auf den anderen einzulassen, verharrt man ewig nur in starren Positionen und liebgewonnenen Sichtweisen. Der Raum des Politischen verschließt sich, Innovation bleibt aus, die Akteure werden berechenbar, Politikverdrossenheit grassiert, Protestwahl wird zum Trend. Dann wir ausgesessen. Im Kanzleramt genauso wie im Wohnzimmer.

Das Gift der Ignoranz

Wer solches stoppen will, muss reden. „Schwätzet mitanand!“, sagte einst mein schwäbischer Fußballtrainer. Das gilt auch außerhalb des Fußballfeldes: Schluss mit den Tabus! Und Schluss mit dem Gerede. Auf allen Ebenen. Es ist so verführerisch einfach, denen das Gespräch zu verweigern, die anderer Meinung sind.

Wir alle – egozentrisch wie wir sind – haben es gerne, wenn man uns in unserer Sicht bestätigt und uns bauchpinselt. Wir lassen uns nicht gern in Frage stellen. Und also machen wir es uns bequem in unseren geistigen Festungen aus Tabus, Dogmen und unserer Selbstgefälligkeit. Dann sagen wir mit ernster Miene: „Was gehen mich die anderen an? Ich wähle die, die ich will. Damit Basta.“

In Wahrheit gehen uns die anderen sehr viel mehr an, als wir glauben. Denn wir sind alle Bürger eines Landes, dessen politische Kultur gefährdet ist; und die vernichtet wird, wenn sich die Haltung des „Was geht mich das an?“ durchsetzt. Die Ignoranz gegenüber denen, die nicht so ticken wie man selbst, ist das Gift der Demokratie.

Hier hilft nur Detox: Ein jeder muss damit beginnen. Gleich nach – noch besser: vor – der nächsten Wahl. Wer bricht sich einen Zacken aus der Krone, wenn er mit einem streitet, der die AfD oder die Republikaner wählt? Der wird sie weiterwählen, wenn er nicht erkennt, dass man nicht weiterkommt, indem man immer nur Parolen schwingt.

Wenn nur Empörung und Erregung zählen

Die Großen müssen zeigen, wie es geht. Es zeugt von keiner demokratischen Gesinnung und erst recht von keiner politischen Intelligenz, wenn man im Wahlkampf und danach schlicht das Gespräch verweigert. Wer das nicht glaubt, der schaue nach Amerika. Dort ist an die Stelle einer einst blühenden politischen Kultur ein kalter Bürgerkrieg getreten. Denn dort wird nicht mehr politisch diskutiert. Dort ist die Politik zur Unterhaltung geworden – bei der es nicht um kluge Lösungen für komplexe Probleme geht, sondern alleine darum, wer am lautesten brüllt und das meiste Aufsehen erregt.

Erregt – das ist das Wort, das die medial verdorbene politische Kultur in Deutschland kennzeichnet. Es geht vor allem um Erregung und Empörung. Es geht ums kurze Aufwallen der Emotion. Damit wird heute Politik gemacht. Nicht mit dem Wort, das eigentlich das Medium des Politischen ist, das Blut in den Adern der Demokratie.

Was Not tut ist ein neues Maß an Nüchternheit und an Gesprächsbereitschaft. Das ist es, was wir alle unserer Demokratie schuldig sind. Wir sollten Politik wieder als etwas betrachten, das uns angeht. Wir sollten Menschen, die anders denken als wir, wieder ansehen als Mitbürger, die uns etwas zu sagen haben. Wir sollten mit ihnen reden, respektvoll und frei von Aufregung und Empörung. Wir sollten hören, was sie sagen – was sie fürchten, was sie hoffen. Auch wenn es uns nicht passt.

Wie anders soll es je gelingen, sie zur politischen Vernunft zu bringen? Das geht doch nur, indem man ihre Fragen kennt, auf die man dann die besseren, die guten Antworten zu geben weiß. Sie ignorieren und sich taub stellen, bringt uns nicht weiter. Im Kleinen fängt es an. Deshalb noch einmal:

Wenn Ihnen an diesem Land etwas gelegen ist, dann suchen Sie das Gespräch mit den Menschen. Drängen Sie es Ihnen auf. Reden Sie über Politik. Nehmen Sie Ihr Gegenüber Ernst. Machen Sie vor, wie es geht anstatt nur darüber zu lamentieren, dass es „die Politiker“ nicht vormachen. Denn sonst versinkt das Land im Schweigen – und macht die Sprachlosigkeit sich einmal breit, dann auch in Tyrannei.

Christoph Quarch

Dr. phil. Christoph Quarch (*1964) ist freischaffender Philosoph und Autor. Er lehrt an verschiedenen Hochschulen und veranstaltet philosophische Reisen, u.a. mit ZEIT-Reisen. www.christophquarch.de

Shutterstock

Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
2 Kommentare
Inline Feedbacks
Alle Kommentare

Wie ersichtlich, basiert die wirtschaftliche Freiheit auf dem Grundsatz des freien Wettbewerbs. Er ist der zentrale Freiheitsbegriff, um den sich alle anderen Freiheiten anordnen. Frei ist, wer wirtschaftlich frei ist; und wirtschaftlich frei ist, wer sich ungehindert am Wettbewerb beteiligen kann. Umgekehrt ist unfrei, wer an der Teilnahme am Wettbewerb gehindert oder gar vom Wettbewerb ausgeschlossen ist. Wirtschaftliche Freiheit und damit das Fundament der Freiheit überhaupt ist nichts anderes als das Recht zur Beteiligung am Wettbewerb.
Was dagegen heute die so genannte Freiheit ausmacht, ist die Freiheit politischer Art, die vorwiegend darin besteht, bei irgendeiner Abstimmung, die meist zu Unrecht die Bezeichnung „Wahl“ führt, Ja oder Nein sagen oder irgendeinen Zettel abgeben zu dürfen. Diese politische Freiheit ist vergleichsweise bedeutungslos; sie kann, ebenso wie die persönliche Freiheit, ohne die wirtschaftliche Freiheit gewährt werden und ist dann ein Torso.

Soziale Marktwirtschaft ist gemäß GG ein Grundrecht in Deutschland:
http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/politiklexikon/18224/soziale-marktwirtschaft
Jean-Jacques Rousseau definiert den Freiheitsbegriff wie folgt:
„Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, daß er tun kann, was er will, sondern daß er nicht tun muß, was er nicht will.“

Kategorien