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Den Tag pflücken – wie geht das?

Raul Bal/ shutterstock.com
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von Ina Schmidt

Carpe Diem“, den Tag nutzen – und das in Corona-Zeiten? Was kann das bedeuten? Vielleicht sich zumindest mal für einige Momente davon zu verabschieden, alles dem Diktat des Nützlichen zu unterwerfen , sagt Ina Schmidt. Und mehr auf Lebensqualität zu achten.

 

Der Weg zur Arbeit hat sich für viele von uns in den letzten Monaten ziemlich verändert: Aus dem Bett in die Küche, einen ersten Kaffee mit Blick aus dem Fenster am Esstisch und dann ab ins Homeoffice, einmal über den Flur, zweite Tür rechts. Vorher noch ein zweiter Kaffee für die ersten Momente am Schreibtisch, um den Tag so munter wie möglich zu beginnen – und dann der Blick auf den geschwungenen Schriftzug auf der Kaffeetasse: „Carpe diem“.

Die Tasse hat uns auch früher schon in den Tag begleitet, und irgendwie haben wir das doch meistens ganz gut hinbekommen: „Nutze den Tag“ oder ganz dem lateinischen original getreu: „Pflücke“ ihn.

Aber was bedeutet es eigentlich, einen Tag zu nutzen? Was ist ein ungenutzter Tag und wäre das denn immer so schlimm? Üblicherweise arbeiten wir uns an nützlichen To-Do-Listen ab, erledigen und besorgen, bringen Dinge auf den Weg. Das lässt uns oft genug am Abend mit dem guten Gefühl aufs Sofa fallen, dass wir den Tag doch sinnvoll genutzt haben.

Aber was, wenn eben das gerade nicht geht und wir vor lauter Verunsicherung, wie es weiter gehen soll, für genau diese Dinge gar keinen Kopf haben? Was soll uns dann eine „Carpe diem“ überhaupt noch sagen?

Mir klingt dieser Appell noch immer als geflüsterte Stimme des Schauspielers Robin Williams im Ohr, in dem wunderbaren Film „Club der toten Dichter“: Seize the day. Er steht mit seinen Schülern, den Jungen eines britischen Internats, vor einer Glasvitrine und schaut mit ihnen die langsam verblassenden Heldenfotos vergangener Sportchampions der Schule an.

Jungen wie sie aus vergangenen Zeiten mit Träumen, Zielen und dem Wunsch, aus ihrem Leben etwas zu machen, es gut zu nutzen: „Seize the day“. Aber Robin Williams spricht nicht von To-Do-Listen und klaren Zielen. Er meint keine gute Noten, die einem den Weg zu einem gut bezahlten Job ebnen, sondern ist auf etwas anderes aus: eine andere Qualität.

Diese Lebensqualität zeigt sich, wenn es gerade nicht darauf ankommt, etwas zu erreichen. Hier geht es vielmehr darum, sich einzulassen, zu genießen oder neugierig einer Idee nachzuhängen. Also, raus in die Welt, wahrnehmen, erleben, begegnen und wagen – all das steckt auch hinter den geschwungenen Buchstaben auf meiner Kaffeetasse.

Den Tag einfach mal anders erleben

Klingt eigentlich ganz wunderbar, aber wie genau nutze ich diesen Tag? Heute, jetzt, mit Lieblingspulli, Kuschelhose und Hauschuhen vom Schreibtisch aus – ohne eine Welt, die gerade für Begegnungen und Erlebnisse zur Verfügung steht? Gute Frage.

Auch hier kann der „Club der toten Dichter“ helfen: Dichtung als Kunst, die Welt in Worten auszudrücken, ohne sie erklären zu müssen, ihr im eigenen Denken auf den Grund zu gehen und diese Worte einmal wirklich wirken zu lassen. Darin liegt ein anderer Nutzen, eine andere Vorstellung von dem, was wichtig ist. Es braucht Innehalten und Anhalten, Pausen und Zeit, um diese andere Art des Nutzens für sich entdecken zu können.

Dafür müssen wir keine Dichter sein und auch keine großen Denker. Es reicht, wenn wir in Zeiten wie diesen bereit sind, uns auch einmal in der Begegnung mit uns selbst auf Entdeckungsreisen zu begeben. Das mag den Sommerurlaub in Frankreich und auch die Gespräche mit Freunden am langen Tisch oder den Espresso im Lieblingscafé nicht ersetzen. Und auch auf die Frage, wie es weitergeht, werden wir so natürlich keine Antwort finden.

Aber es kann dazu führen, dass wir allein mit einer angestoßenen alten Kaffeetasse zum Nachdenken kommen und den Tag einfach mal ganz anders denken, auch wenn wir gar nicht viel anders machen. Außer am Abend vielleicht einmal einen Blick ins Bücherregal werfen und nach Jahren das Stundenbuch von Rainer Maria Rilke in die Hand zu nehmen – oder sich aufs Sofa zu werfen, um in Ruhe den „Club der toten Dichter“ anzuschauen.

Foto: Gaby Bohle

Dr. Ina Schmidt studierte Kulturwissenschaften und Philosophie. 2005 gründete sie die denkraeume, eine Initiative für philosophische Praxis. Sie ist Buchautorin, Lehrbeauftragte der Professional School an der Leuphana Universität und Referentin u.a. für das Netzwerk Ethik heute. Ina Schmidt lebt mit ihrem Mann und ihrer Familie in Reinbek bei Hamburg.

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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