Eine neue Biografie über Hannah Arendt
Über die politische Theoretikerin Hannah Arendt (1906-1975) ist bereits viel geschrieben worden. Nun hat der Münchner Philosophie-Professor Thomas Meyer anhand neuer Quellen wesentliche Abschnitte ihres Lebens neu beleuchtet. Seine 2023 erschienene Arendt-Biografie zeigt vor allem, wie sich ihr Denken und Handeln beeinflussen.
„Schon bei der Frage, ob Arendt Philosophin, politische Theoretikerin, Historikerin, Soziologin oder noch ganz anderes war, nämlich auf einer anderen Ebene Jüdin, Sozialistin, Konservative, Reaktionäre oder doch eher Feministin und Überlebende, existiert in den Hunderttausenden Interpretationen nicht in Ansätzen ein Konsens“, schreibt Thomas Meyer.
Damit impliziert er, dass auch seine Perspektive einem kritischen Arendt-Bild nur ein weiteres Mosaiksteinchen, wenn auch ein wesentliches, hinzufügt. Damit bereichert der Autor und Herausgeber zahlreicher Hannah Arendt-Schriften zugleich die bisherige Arendt-Forschung.
Und deswegen: Diese Biografie ist nicht unbedingt leichte Kost, sondern richtet sich eher an ein Fachpublikum. Ohne Vorkenntnisse kann der Leser die zahlreichen herangeführten Belege, die kritisch-reflexiven Metagedanken und Neuerungen im Vergleich zu der seit 1986 als Standardwerk geltenden Arendt-Biografie von Elisabeth Young-Bruehl womöglich kaum als Wert erkennen.
Praktisches Engagement beeinflusst das Denken Arendts
“Ich glaube nicht, dass es irgendeinen Denkvorgang gibt, der ohne persönliche Erfahrung möglich ist. Alles Denken ist Nachdenken, der Sache nach – denken.” Dieses Arendt-Zitat wird denn auch zum Dreh- und Angelpunkt für Thomas Meyers Ansatz.
Seine intensive Archivarbeit hat zahlreiche Quellen zu Tage gefördert: Belege zu familiären Veränderungen, Umzügen usw. verhelfen zu einem vollständigeren Bild von Hannah Arendts sozialer Herkunft und Kindheit.
Weitere gewähren vor allem Einblicke in ihre bisher unbeleuchteten Pariser Exil-Jahre von 1933 bis 1941, in denen die von Heidegger, Husserl und Jaspers beeinflusste Denkerin politisch-praktisch aktiv wurde.
Hannah Arendts später von ihr selbst kaum beachtetes Engagement in Paris für einen jüdischen Staat und für die Emigration jüdischer Kinder nach Palästina stellt Thomas Meyer in einen wesentlichen Zusammenhang mit dem politischen Hauptwerk aus ihren späteren Jahren in New York: allen voran „Die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ von 1961 oder Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen von 1963. Und das ist das wirklich Neue an seiner Biografie.
Wer also wissen möchte, wie die couragierte Verfechterin von Pluralität im politischen Raum zu einer der bedeutendsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts wurde, wie sie zugleich faszinierte und provozierte, findet auf den 480 Seiten nebst Anmerkungen und Glossar reichlich Anregungen und Argumente.
Wer zudem wertschätzt, dass sich Menschen mit humanistischem Weitblick nicht nur verbal, sondern auch in aktivem Handeln für ihre Überzeugungen einsetzen, dem rückt Hannah Arendt durch Thomas Meyers Augen definitiv näher.
Anja Oeck
Thomas Meyer, Hannah Arendt. Die Biografie. Piper Verlag 2023