Die eigene Religion durch andere besser verstehen
Der interreligiöse Dialog ist gerade in Zeiten, in denen der Fundamentalismus erstarkt, wichtig. Professor Wolfram Weiße beschreibt, wie der Austausch mit anderen Religionen Einsichten zutage fördert, vor starren Glaubenssätzen bewahrt und die Mitmenschlichkeit stärkt.
Die Gewaltexzesse im Namen der Religon zeigen, wie ungemein wichtig Dialog und Respekt zwischen Menschen unterschiedlicher Religion und Kultur sind. Es ist eine zentrale Aufgabe für Wissenschaft und Gesellschaft, diesen Dialog zu fördern.
Gewalt und Terror können sich nicht legitimerweise auf Religionen berufen, denn: In den Urtexten aller Religionen gibt es zwar auch einzelne Verse, die Gewalt zu legitimieren scheinen, aber in allen Religionen ist die Achtung und der Respekt gegenüber Andersgläubigen ein Grundgebot. Der Frieden ist eine Verheißung, der die religiösen Menschen in ihrem Leben entsprechen sollen.
Deswegen ist es mehr denn je notwendig, auf das große Potenzial von Gewaltfreiheit und Frieden in den Religionen zu achten, denn nur so kann man der Gewalt Einhalt gebieten. Und hierfür ist der Dialog so wichtig.
Neue Wege, religiöse Texte zu interpretieren
Der Dialog mit Vertreterinnen und Vertretern verschiedener Religionen bringt uns auf neue Gedanken. Gemeinsames muss nicht künstlich hergestellt werden, sondern als Menschen, die Religionen achten, verbinden uns gemeinsame Wünsche, Sehnsüchte und Ziele.
An der Akademie der Weltreligionen betreiben wir den Dialog auf wissenschaftlicher Ebene. Wir probieren neue Methoden aus und gewinnen dadurch andere Einblicke in die Religionen. Denn wir beforschen nicht verschiedene Religionen nebeneinander, sondern bearbeiten in Forschung und Lehre religiöse Themen im Austausch. Wir interpretieren zum Beispiel religiöse Texte wechselseitig. Ein christlicher Text wird von einem Christen, Buddhisten und Muslim ausgelegt und umgekehrt.
Im Ensemble unterschiedlicher religiöser Traditionen erfahren wir mehr über Religion. Dieser Ansatz führt dazu, dass sich neue Perspektiven eröffnen, und daraus entstehen wissenschaftliche Ansätze wie eine dialogische Theologie. Das Besondere daran ist, dass sie Auslegungen aus unterschiedlicher Perspektive zulässt und einbezieht.
Früher ging es in den Theologien immer darum, die eigenen Standpunkte zu zentrieren: auszuschließen, was nicht dazu gehört, und immer stärker die eigene Position zuzuspitzen – durch Einengung. An der Akadmie gehen wir einen anderen Weg: Es geht schon um die Zuspitzung der Perspektiven, aber nicht durch Ausblenden, sondern unter Einbeziehen anderer Traditionen. Das ist wissenschaftlich ein ganz neuer, vielversprechender Weg.
Ein größeres Bild von Religion gewinnen
Unser Ansatz ist interdisziplinär. Wir bleiben nicht in den üblichen Kontroversen stecken, ob wir ein Thema sozialwissenschaftlich oder geisteswissenschaftlich angehen. Wir betrachten die Wirklichkeit durch die Prismen verschiedener Disziplinen und beleuchten mit unterschiedlichen Methoden bestimmte Facetten von Religionen. So bekommen wir ein umfassenderes Bild.
Das heißt nicht, dass uns die Komplexität wie eine Lawine überrollt und man das Gefühl hat, gar nichts mehr zu verstehen. Vielmehr kann man mit dem interdisziplinären Ansatz Schneisen der Erkenntnis durch den Urwald des Nicht-Wissens schlagen.
Der Austausch ist nicht auf die Ratio begrenzt, es gibt auch einen Dialog des Herzens. Denn ein vertiefendes Gespräch kann nur gelingen, wenn es mit viel Emphatie anderen Menschen gegenüber geführt wird. Über die Dialoge komme ich mit vielen Menschen in Kontakt. Und das trägt auch der Komplexität unserer Gesellschaft Rechnung. Denn unsere Erkenntnisse und Erfahrungen hängen mit anderen Menschen zusammen, und das erleben wir im Dialog ganz unmittelbar.
Dialog hat darüber hinaus auch etwas damit zu tun, für andere einzustehen: Im persönlichen Bereich wie auch in Fragen von Barmherzigkeit und gesellschaftlicher Gerechtigkeit. Dialog hat sich also auch ganz praktisch zu erweisen, wenn er nicht ausgehöhlt werden will. Und das ist meine Erfahrung: Dialog mit Menschen anderer Religion ist auf Empathie, wechselseitige Unterstüzung, Vertrauen und zunehmende Kenntnisse voneinander angewiesen. Insofern ist er, um ein altes Diktum der Pädagogik aufzugreifen, ein umfassender Dialog von Herz, Hand und Verstand.
Wenn jemand einen anderen Standpunkt hat als ich, kann mich das weiterbringen. Die Gemeinschaft ist auch ein Korrektiv, gerade wenn man den Dialog länger gepflegt und Vertrauen aufgebaut hat. Wenn dann jemand verrückt spielt – oder man selbst –, kann darüber gesprochen werden. Dieses Netzwerk von Beziehungen ist also wichtig und ganz entscheidend für den Dialog.
Der Dialog lehrt uns auch Demut. Ich entscheide nicht über alles, nicht über die Gültigkeit meines Lebensweges, ja nicht einmal dessen, was ich glaube. Wir lernen, die eigenen Maßstäbe nicht als für allgemeingültig herauszustellen. Im Dialog vermeidet man, dass Überzeugungen zu starren Glaubenssätzen werden.
Wir sind angehalten, das, was wir für wahr halten, immer wieder neu zu überdenken – durch das Antlitz anderer Menschen, wie er Philosoph Emmanuel Levinas sagen würde. Mit dem Dialog ist immer eine innere Dynamik verbunden, die neue Einsichten zutage fördern kann. Damit hat er das Potenzial, für Menschen wirklich tragend zu sein.
Professor Dr. Wolfram Weiße ist Direktor der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Funktion von Religionen in der Gesellschaft, Dialog in Theologie und Religionspädagogik , internationale Theologie. Leiter großer internationaler Forschungsprojekte, gegenwärtig des Projektes “Religion und Dialog in modernen Gesellschaften”.