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Der Klügere gibt nach?

Foto: privat
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Philosophische Kolumne: Mal muss man nachgeben, mal nicht

Unlängst wieder Streitigkeiten. Worüber? Weshalb? Das spielt eigentlich keine Rolle, denn Anlässe finden manche Zeitgenossen immer. Auch die eigene Streitlust findet sie. Am Abend dann das Gespräch darüber mit einer Freundin. Und ich wusste es ja, was kommen musste wie das Amen in der Kirche, früher oder später: „Komm, lass sie einfach! Der Klügere gibt nach.“

Ein Kompliment? Geschenkt. Eine Einladung? Ich wäre nicht Philosophischer Praktiker, würde ich die Empfehlung nicht zumindest intrapersonal, in Zwiesprache mit mir selbst, zur Geltung bringen.

Der Klügere in mir selbst – weiß ich denn so genau um ihn? Was weiß die und was weiß meine Klugheit im vielstimmigen Miteinander zu raten? Und ist es richtig, aus Klugheitsgründen nachzugeben?

Meine Schülerinnen und all die Kollegiaten, die ich, jüngst in den Ruhestand eingetreten, schon sehr vermisse (mit ihnen war es köstlich zu streiten, denn ihnen war es dabei wirklich ernst und immer stand etwas Wichtiges auf dem Spiel), die meisten jedenfalls von ihnen würden wohl gesagt haben: „Na, das kommt drauf an.“

Ein Satz, den ich am liebsten verboten hätte, was aber ein Pädagoge lieber nicht tut. Und sie haben ja auch Recht; mal muss man nachgeben, mal auf etwas bestehen und dabei auch etwas in Kauf nehmen.

Von „Liebesentzug“ und derlei Dingen, die man gerne, wenn gegeben, behalten möchte, also wertgeschätzt zu werden, anerkannt, gemocht usf. ist da nicht die Rede, sondern eher vom Schmerz, vom Schmerz nachfolgender Sprachlosigkeit, vom Gefühl des Getrenntseins, von der Aussicht auf Entfremdung.

Vielleicht muss man auf eine Art und Weise Flagge zeigen, die Mühen kostet und was einen sogar überfordern könnte. Und ist Haltung nicht ohnehin stets geboten, das A im ABC der Verantwortung? Aber vor wem? Zählt die Sache, die richtige Perspektive, die Wahrheit? Oder die Verbundenheit mit dem anscheinend so unvernünftigen Streithammel, der mir entgegentritt?

Meine Interpretation des Satzes „Der Klügere gibt nach“ lautet in der Selbstanwendung in etwa so: Klug könnte sein, den Anspruch, dass Vernunft das einende Band zwischen Menschen ist, dass nur mit geteilten Werten und unter der gemeinsamen Anerkennung von Verbindlichkeiten und Wahrheit gut miteinander Kirschen essen ist, neu zu überdenken.

Die stolze Klugheit in mir könnte sich doch auch etwas zurücknehmen und sagen: Versuchen wir es mit einer Freiheit, die befreundet: einander in Differenz und Nichtverstehbarkeit gelten lassen.

Sonst schätze ich doch auch Differenzen und lobe die Ambiguitätstoleranz. Warum dachte ich bislang bloß, man müsse dahin kommen, sich, das heißt einander, zu verstehen, und zumindest soweit wenigstens sich selbst, so dass man eine Gespür dafür bekommt, weshalb man so unterschiedlicher Auffassung ist, so sehr differiert im Meinen, so weit auseinander liegt im Urteil?

Natürlich war ich bei all dem bereit, auch mich selbst zu hinterfragen. Der Andere könnte Recht haben, das ist ja auch klug und allemal Grund, nachgiebiger zu sein. – – Nein, es ist etwas Weitergehendes: ich muss mir selber verzeihen und Nachsicht üben mit mir, der ich dachte, Einigkeit verlange Einmütigkeit, die in einem Verstehen verankert sein müsse.

Das Verstehen, vermag es denn nicht nur Frieden zu stiften, ist es nicht auch intrinsisch beglückend? Da versteht mich jemand, da verstehe ich jemand, da verstehen sich zwei: Wir. Aber ist das schon Frieden in Aktion? Den Unterschied zum Waffenstillstand, zur Friedhofsruhe, zum Kalten Krieg räume ich ein – und doch bleibt ein Fragezeichen.

Ja, es gibt wohl etwas Grundlegenderes, und da kommt es auf bestimmte und ohnehin recht problematische Arten des Klugseins gar nicht an. Wie soll ich dies benennen?

Es ist die Bereitschaft, jenseits von Sympathie, Verständnis, Vertrautheit, unabhängig von gewährter Anerkennung oder gar entgegengebrachtem Wohlwollen einfach Ja zu sagen zur Anderheit eines Andern oder einer Andern, auch zu ihrer oder seiner Unverständlichkeit mit allem unergründlich Sinnwidrigen, das man in seiner Schwäche am anderen Menschen meint feststellen zu müssen. Ist es nicht ebenso schon mit dem Selbst?

Die Frage ist nicht, wie das mit der Bejahung gehen soll, sondern ob ich das will. Und mit einem Mal, wenn ich endlich will, entdecke ich: Ressentiments (um nur ein Beispiel zu bringen) gibt es meist in zwei Richtungen.

Ach ja, und nun ist es raus, worum es in der Auseinandersetzung am Mittag gegangen war: um Politik, über die noch mehr gestritten werden kann als über Geschmack oder Kunst, und wo ein Urteil, wenn ich Kant recht verstanden habe, Gemeinschaft stiftet oder auflöst. –Ressentiments also gibt es in zwei Richtungen. Nicht nur das Ressentiment der Wutbürger, der Neider, der schlicht gestrickten Einfaltspinsel und der mit Intelligenz weniger Gesegneten.

Nein – aus solchen Zuschreibungen spricht selbst schon wieder ein krasses Vorurteil, der Neid auf Nichtdenker, die Angst vor Urgewalten, der Zorn auf solche, die nicht so wollen, wie die Klüglinge es für richtig halten. Von der anderen Seite vom Pferd gefallen ist auch nicht geritten. Wie oft versteckt sich hinter hohen Ansprüchen an sich selbst der Hochmut des asketischen Ideals, das Nietzsche so sarkastisch zu geißeln wusste!

Was heißt also in politischer Auseinandersetzung, im Streit und unter der Annahme, der andere könne (auch) nicht über seinen Schatten springen, klug sein?

Ich vermute mal: Diskrepanzen aushalten und hinterfragen, geduldig zugewandt bleiben, nicht verurteilen. Ich erinnere an die Ethik Spinozas, die uns über das Affektleben aufklärt. Wenn wir die Gebrechen der menschlichen Natur beweinen, verlachen, verachten oder, was am häufigsten geschieht, verwünschen, dann mangelt es am Verständnis der letzten Gründe, was unsere Geistesverfassung angeht. Ein souveräner erkenntnisgeleiteter Blick auf die Angelegenheiten entspannt.

Ist Beruhigung o.k.? Erkenntnis der Logik der Gefühle ist kein Opiat, so sehr sie beruhigen und, den Politisierern und Moralisierern zum Ärger, zurückhaltend machen wird. Den gerechten Zorn, der zur Veränderung, die Empörung, die zum Widerstand motivieren können, kühlt Spinozas Erkenntnis bis zum resignierten Kopfschütteln herab.

Ich kann ihn gerade dafür aber bewundern. Das wird auch Arthur Schopenhauer, dem Streitlustigen, so ergangen sein. Da ihm das Ressentiment gewiss nicht fremd war, sind selbst seine friedfertigsten Bemerkungen nicht frei von Boshaftigkeiten, und doch meldet sich auch Milde zu Wort, wenn er verlangt, einander nicht nach Wert und Würde (gering) zu schätzen, was leicht zu Hass oder Verachtung führe, sondern des andern Leiden, seine Not, seine Angst, seine Schmerzen ins Auge zu fassen: Da werde man sich stets mit ihm verwandt fühlen, mit ihm sympathisieren und, statt Hass oder Verachtung, Mitleid mit ihm empfinden.

„Um keinen Hass, keine Verachtung gegen ihn aufkommen zu lassen, ist wahrlich nicht die Aufsuchung seiner angeblichen »Würde«, sondern, umgekehrt, der Standpunkt des Mitleids der allein geeignete.“

Mit Mitleid will ich andere verschonen, im doppelten Sinn. So übersetze ich Schopenhauers Hinweis mit Nachsicht. Der sympathische Punkt bei Schopenhauer ist es, den Anderen auch als Nichtanderen sehen zu können, und mit Spinoza das Moment des Fremden auch im eigenen Selbst. Solche Einsichten tun mir wirklich gut. Ein Glück, sie zum Gesprächspartner zu haben.

So kann ich, ein wenig klüger geworden, dem anderen dankbar sein, selbst wenn der Anlass, ja gerade weil der Anlass Widerständigkeit provoziert.

Dass falsche Nachgiebigkeit wie falsche Nachsicht und andere Falschheiten moralisch bedenklich sind, bleibt davon unberührt. Aber der Widerstand gegen Verkehrtes braucht für seine Legitimierung alles andere als „unsaubere“ Affekte; und zur Aktion motiviert die Liebe nicht weniger als der Zorn – aber das wären Gedanken für einige Kolumnen mehr…

Thomas Gutknecht, 11. Januar 2019

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