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„Der Tod ist auch in Krankenhäusern immer noch ein Tabu“

Ann-Yuni/ shutterstock.com
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Interview mit einem Palliativmediziner

Der Palliativmediziner und Buchautor Matthias Gockel überlegt, welche Folgen die Corona-Krise für die palliative Betreuung haben könnte. Im Interview spricht er darüber, wie Menschen in Zeiten des Corona-Virus mit dem Thema Tod umgehen, warum ihn die Lage in Italien erschreckt und wie er und seine Kollegen versuchen, Vorbereitungen für Notfälle zu treffen.

 

Das Gespräch führte Agnes Polewka

Frage: Herr Gockel, haben Sie im Moment größere Angst vor dem Tod?

Gockel: Das habe ich mich in den letzten Tagen oft gefragt. Grundsätzlich nicht. Aber mich erfüllt ein ganz komisches Gefühl, dass ich denke: Nein – nicht an einem Virus-Infekt sterben! Und es treibt mich um, was nach der Krise kommt, welche gesellschaftlichen Veränderungen uns erwarten.

Welche gesellschaftlichen Veränderungen könnten denn auf uns zukommen?

Gockel: Auf der positiven Seite glaube ich, dass wir alle ein bisschen mehr zusammenrücken und aufeinander aufpassen. Auf der anderen Seite sehe ich im Alltag, wenn ich einkaufen gehe oder ähnliches, dass der Egoismus und die Rücksichtslosigkeit der Menschen noch stärker zum Tragen kommen.

Ich habe die Hoffnung, dass es ein sozialeres gesellschaftliches Wir gibt, aber auch die Möglichkeit, dass genau das Gegenteil kommt. Hinzu kommt, dass aktuell einige unserer Grundrechte ausgesetzt sind: Zum Beispiel sind die Grenzen geschlossen und ich hoffe nicht, dass unser ganzes System nach der Krise sehr viel nationalistischer, kleinstaatlicher, weniger europäisch ist, als es das vorher war.

Ist zu erwarten, dass die Palliativmedizin in den kommenden Wochen an ihre Grenzen kommt?

Gockel: Die stationäre Palliativmedizin, die Stationen und Hospize, werden sicher an ihre Grenzen kommen. Innerhalb sehr viel kürzerer Zeit wird es viel mehr Menschen geben, bei denen die Entscheidung über lebensverlängernde Maßnahmen ansteht. Wir haben jetzt schon viele Menschen, die am Ende ihres Lebens angekommen sind, weil sie schwer krank sind. Wenn jetzt noch ein Virusinfekt hinzukommt, werden sie mit hoher Wahrscheinlichkeit schneller an den Punkt kommen, an dem sie sterben. Das heißt: Bei ihnen könnte es eine Beschleunigung der Krankheitsverläufe geben und manche werden durch das Virus ganz schnell sterbenskrank werden. Die Ressourcen auf den Stationen reichen dafür sicherlich nicht aus.

Wie kann man dagegen steuern?

Gockel: Das palliativmedizinische Know-how ist ja nicht auf Palliativstationen beschränkt. Das Wissen darum, wie ich es bei einem sterbenskranken Menschen hinbekomme, dass er nicht unnötig leidet, wird viel mehr in die Breite gehen. Es muss Bestandteil auf den Normalstationen werden, auf denen in den nächsten Wochen Menschen sterben werden. Ich selbst werde in den kommenden Tagen in unsere Notaufnahme gehen und mit den Kollegen besprechen, was passiert, falls bei uns norditalienische Verhältnisse eintreten, wovon ich aber hoffe, dass es uns erspart bleibt .

Die nächsten zwei Wochen sind entscheidend

Wann rechnen Sie mit der großen Krise?

Gockel: Ich bin kein Epidemiologe und auch kein Virologe. Wenn ich hier bei uns in Berlin, in der Vivantes-Klinik schaue, haben wir jetzt vielleicht eine Handvoll Corona-Patienten bei uns im Haus. Die sind alle in den letzten vier oder fünf Tagen zu uns gekommen und haben alle anderthalb Wochen zuvor die ersten Symptome gehabt.

Wenn man davon ausgeht, dass das exponentielle Wachstum weitergeht und wir mit einem täglichen Zuwachs von dreißig Prozent rechnen – dann gehe ich davon aus, dass wir innerhalb dieser Woche die ersten Auswirkungen in den Notaufnahmen, in den Krankenhäusern sehen werden. Gleichzeitig wird man auch sehen, inwieweit die Maßnahmen, die uns auferlegt wurden, fruchten. So gesehen werden die nächsten zwei, drei Wochen entscheidend – im Guten wie im Schlechten.

Biostatistiker prognostizieren, dass das schon bald Intensivbetten und Beatmungsgeräte knapp werden könnten. Inwieweit werden Palliativmediziner in Krisenstäbe mit einbezogen?

Gockel: In der vergangenen Woche hat die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin eine Handlungsempfehlung für alle Kliniken versandt, das ist eine wichtige Handreichung. Man muss sich immer wieder vor Augen führen, dass der Tod auch in Krankenhäusern immer noch ein Tabuthema ist – sowohl auf der organisatorischen als auch auf der individuellen Ebene.

Als bei uns im Hause die Frage angesprochen wurde, auf wie viele Tote wir uns einstellen müssen, da zeigte sich eine Haltung “Lasst uns warten, bis es soweit ist“. Da, wo die Palliativmedizin in Häusern oder Strukturen gut etabliert ist, wird sie einbezogen, aber sie muss sich schon auch selbst kümmern, weil sie nicht aktiv gerufen wird.

Sich mit existentiellen Fragen befassen

Worauf bezieht sich die Handlungsempfehlung der Palliativmediziner?

Gockel: Es geht primär um drei Aspekte: Eigentlich sollte man grundsätzlich jeden Patienten fragen: Gibt es für dich eine rote Linie, was medizinische Interventionen angeht, die nicht überschritten werden soll? Das passiert viel zu selten, weshalb oft alte, sehr kranke und/oder demente Patienten auf Intensivstationen landen. Weil sich eben nicht jeder traut, diese Fragen zu stellen.

Der zweite Aspekt in dem Papier ist der Appell, die anderen Schwerstkranken und Sterbenden, die unabhängig vom Corona-Virus in die Krankenhäuser kommen, nicht zu vernachlässigen. Der dritte wichtige Aspekt bezieht sich auf die notwendigen Maßnahmen der Symptom-Kontrolle bei schwerer Luftnot und Erstickung. Damit jeder weiß, was man tun kann und tun muss, damit diese Patienten, wenn sie sterben müssen, nicht unter Panik ersticken.

Wie in Italien?

Gockel: Als ich die ersten Artikel aus Italien gelesen habe, hat mich das sehr erschreckt. Ärzte sagten sinngemäß: Wenn wir Menschen mit Vorerkrankungen oder Leute über 80 – das Alter wurde, nebenbei bemerkt, kontinuierlich herabgesetzt – nicht auf die Intensivstation legen können, „dann schicken wir sie zum Sterben nach Hause“. Da lief es mir eiskalt den Rücken herunter.

Jemand, der ins Krankenhaus kommt, weil er keine Luft mehr bekommt, bei dem kann es durchaus nötig und wichtig sein, ihn nicht auf eine Intensivstation zu verlegen. Aber die Luftnot geht ja nicht dadurch weg, dass ich ihn nach Hause bringen, wo er gerade herkommt. Da ist es gut, wenn es Handreichungen für solche Situationen gibt.

Wären diese Verhältnisse denn auch in Deutschland ein denkbares Szenario?

Gockel: Ja. Ich mache seit zwanzig Jahren Palliativmedizin und sehe durchaus Fortschritte, was etwa die Schmerztherapie oder die Behandlung von Luftnot angeht. Das alles bleibt aber weit unter unseren Möglichkeiten. Es sterben mehr Menschen mit Schmerzen, Luftnot und schwerer Übelkeit, als es sein müsste. Wenn die Zahl dieser Menschen plötzlich um ein, zwei Zehnerpotenzen hochgeht, verschärft sich dieses Problem.

Corona rüttelt an der Vorstellung ewiger Jugend

Könnte sich unser Umgang mit dem Tod durch die Krise verändern?

Gockel: Für möglich halte ich es. Wenn ich die Krise schon nicht verändern kann, dann wäre es ein positiver Nebeneffekt, dass wir uns selbst verändern. Es gibt viele Leute, die bis zu ihrem 50. Lebensjahr nie mit dem Tod konfrontiert wurden. Das war mir so lange Zeit auch nicht klar. Sie haben ihre Eltern, die zwar um die 80 Jahre alt, aber soweit noch rüstig sind. In solchen Familien gibt es niemanden, dessen Tod im näheren Umfeld sie mitbekommen haben.

Wir leben im gesellschaftlichen Kontext von ewiger Jugend und großer Vitalität der Älteren. Jetzt kommt der Tod nach Deutschland und Europa. Spannend wird dann die Frage: Wird es einen anderen Umgang mit ihm geben? Oder haben wir dann im Anschluss an die Krise wieder eine 50er-Jahre-Biedermeier-Stimmung, in der alles noch stärker verdrängt wird?

Fällt Ihnen der Umgang mit dem Tod vor dem Hintergrund des Corona-Virus einfacher?

Gockel: Im Prinzip schon, aber fragen Sie mich in zwei Wochen noch einmal. Wir Palliativmediziner sind es gewohnt, Gespräche über das Lebensende zu führen und wir wissen auch, dass diese Gespräche meist viel weniger belastend sind als man denkt. Sie sind zwar traurig, aber auch sehr ehrlich und erleichternd. Diese Erfahrungen sind in der jetzigen Situation ein Vorteil.

Gespräche, für die vielleicht aber bald keine Zeit mehr bleibt.

Gockel: Genau, davon gehe ich aus, dass das alles ganz anders wird. Auf der anderen Seite glaube ich, dass man auch mit wenig Zeit sehr viel bewirken kann. Es gibt eine ganze Menge an Dingen, die man auch in Krisensituationen aufrechterhalten kann. Manchmal braucht man nur wenige Minuten, um die Würde und Autonomie eines sterbenden Menschen zu wahren und die Schmerzen des Patienten zu lindern.

 

Claudia Burger

Der gebürtige Wuppertaler Matthias Gockel ist Internist und leitete von 2009 bis 2017 die Palliativstation im Helios-Klinikum Berlin-Buch. Zuvor hatte er die Palliativstation am Klinikum Großhardern in München mit aufgebaut. Seit 2018 ist er Leitender Oberarzt am Vivantes-Klinikum Friedrichshain in Berlin und baut dort die Palliativmedizin auf. Ihr Herzstück: ein Palliativberatungsdienst, der auf allen Stationen der Klinik unterwegs ist.

Buchtipp: Matthias Gockel, Sterben – Warum wir einen neuen Umgang mit dem Tod brauchen. Ein Palliativmediziner erzählt, Berlin Verlag, 2019

 

 

 

 

 

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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Ich stimme zu – “im großen und ganzen”. Die Frage nach der “roten Linie” könnte/sollte auch lauten “haben Sie eine Patientenverfügung?”… Aufklärung zur Patientenverfügung ist eine von vielen wichtigen Aufgaben der Palliativ-Fachkräfte.
Es darf nicht wahr sein oder werden, dass Patienten mit Luftnot “zum Sterben nach Hause geschickt werden”,
weder jetzt in Corona-Zeiten noch unter anderen Umständen. Unnötiges Leiden vermeiden.

Grundsätzlich: Wir denken viel zu klein! Ich glaube an das Gute, Wahre, Schöne und Heilige im Menschen, irgendwie
in jedem, in der Menschheit – die jetzt durch diese Krise weltweit wachgerüttelt wird.
Tun wir doch alles, jede und jeder Einzelne im kleinen und unmittelbaren Umfeld, damit wir über alle Grenzen hinweg die vorgen. 4 Merkmale stärken und danach handeln.

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