Philosophisches Basiswissen: Diskursethik Habermas
Der Philosoph Jürgen Habermas (*1929) entwickelte die Diskursethik in den 1970er Jahren. Die Idee ist, dass man im Konsens und auf Basis vernünftiger Argumente universelle Aussagen über moralische Prinzipien treffen kann. Die philosophische Praktikerin Mooslechner-Brüll über eine Kommunikation mit der Vernunft als Basis.
Kaum eine Theorie ist so bekannt und doch so schwer gänzlich zu begreifen wie die Diskursethik von Jürgen Habermas, und zugegeben: Sie ist wirklich komplex.
Es beginnt schon beim Begriff: nach der Differenzierung zwischen Ethik und Moral, die Habermas selbst vornimmt, dürfte die Diskursethik gar nicht so heißen. Es handelt sich viel mehr um eine Diskurstheorie der Moral, wie er selbst später korrigierend feststellt. Warum das? Wir werden uns dieser Differenzierung gleich widmen, aber beleuchten wir zu Beginn noch, was Habermas’ Ausgangspunkt und Antrieb für seine Theorie war.
Habermas’ Projekt war stets das Anliegen, die Moderne zu retten. Bei aller Kritik am Zeitalter der Vernunft und der Tendenzen, sie zu instrumentalisieren, die Habermas selbst immer wieder aufzeigt, sollte die Vernunft als Vorbedingung einer freien und gerechten Gesellschaft und eines demokratischen und sozialen Rechtsstaat gut begründet werden können und nicht als verstaubt und untauglich im Schrank der Geschichte landen.
Für Habermas war dabei eine politische Öffentlichkeit, in der alle Menschen sich frei und gleichberechtigt über das, was als wahr und richtig gelten soll, verständigen, immer notwendige Bedingung einer Demokratie.
Wir sehen heute in Zeiten einer komplett fragmentierten Öffentlichkeit, in der sich Echokammern bilden und kaum mehr von einer einzigen politischen Öffentlichkeit die Rede sein kann, wie problematisch sich dies auf eine Demokratie auswirken kann. Seine Intention und sein Vorhaben können daher nur zu gut nachvollzogen werden. Sie verlieren auch nicht an Aktualität, auch wenn bis heute zur Diskussion steht, wie realitätsnah sein Ansatz ist.
Wir gehen beim Sprechen davon aus, dass der andere die Wahrheit sagt
Woraus ließe sich nun eine gewisse Vernunft ableiten, die nicht von oben gegeben oder durch irgendeine Transzendenz begründbar wäre? Habermas verlässt sich hier auf die Sprache.
Sprache erwächst für ihn aus den praktischen Verständigungszusammenhängen der «Lebenswelt», wie er es nennt. Durch ihre Regeln verfestigen sich «Interaktionsregeln» – quasi automatisch. Diese Regeln haben wiederum einen normativen Gehalt, formen also, was wir als das definieren, was sein soll.
Unserem Sprechen ist stets ein Anspruch auf (1) Wahrheit inhärent, sie verweist auf eine Handlung und deren (2) Richtigkeit und zudem erscheint darin eine Sprecherin, ein Sprecher, die seine/ihre Glaubwürdigkeit beansprucht, d.h. sie vermittelt (3) Wahrhaftigkeit.
Die Wahrheitsunterstellung, die Habermas konstatiert, ist dabei besonders interessant. Er geht davon aus, dass wir beim Sprechen zunächst immer davon ausgehen, dass der andere die Wahrheit sagt. Ist es anders, dann handelt es sich um eine Abweichung von dieser Norm.
Das kann jeder mal bei der Kommunikation selbst überprüfen: Wir gehen doch tatsächlich nicht durch die Welt und nehmen grundsätzlich an, dass wir belogen werden. Ein Zusammenleben würde so gar nicht funktionieren. Diese Wahrheitsunterstellung ist also schon Teil einer gewissen Vernünftigkeit.
Dabei ist eines ganz wichtig: Habermas versteht Vernunft im Sinne einer kommunikativen Rationalität, denn sprachliche Kommunikation ist größtenteils auf ein Ziel ausgerichtet: gegenseitige Verständigung – das nennt Habermas dann «die kommunikative Vernunft».
Er selbst drückt das übrigens ganz kompliziert so aus: Es handle sich bei diesen Unterstellungen nicht um eine regulative Idee im Sinne Kants, sondern um eine „unvermeidliche idealisierende Voraussetzung pragmatischer Art“. Will heißen: ohne diese pragmatischen Unterstellungen könnten wir gar nicht miteinander argumentieren.
Wer mit diesen Annahmen nicht mitgehen kann, wird mit Habermas’ Diskurstheorie wenig anfangen können. «Wir verstehen einen Sprechakt, wenn wir wissen, was ihn akzeptabel macht.», sagt Habermas. Wir suchen also immer nach guten Gründen. Übrigens gibt es natürlich auch ein strategisches Handeln und die entsprechende Kommunikation, aber die nennt Habermas «systematisch verzerrt».
Wir sehen, schon in der Sprache selbst versteckt sich eine gewisse Ethik. Wobei Habermas eher sagen würde: eine Moraltheorie. Sehen wir uns also diesen Unterschied noch genauer an.
Was sind die Bedingungen der Kommunikation?
Bei der Definition dessen, was Ethik ist, greift Habermas auf die Antike zurück: Die Ethik behandelt Fragen des guten Lebens, meist existenziell-ethische Fragen, auch Werte, und beruht auf lebensweltlichen Erfahrungen. Sie ist also stets subjektiv orientiert.
Dagegen fragt die Moraltheorie nach den Begründungsmöglichkeiten von Normen und ob es sich beim moralischen Gesichtspunkt um den Versuch handelt, zu einem unparteilichen Urteil zu gelangen, d.h. man nimmt von der eigenen unmittelbaren Betroffenheit Abstand. Die Moralphilosophie beschäftigt sich mit Begründungsformen und deren Gültigkeit – und eben dies tut auch Habermas. Er drückt den Unterschied so aus:
„In ethisch-existentiellen Diskursen bestimmen sich Vernunft und Wille gegenseitig, wobei dieser in den thematisierten lebensgeschichtlichen Kontext eingebettet bleibt. Die Beteiligten dürfen sich in Prozessen der Selbstverständigung nicht aus der Lebensgeschichte oder der Lebensform herausdrehen, in denen sie sich faktisch vorfinden.
Moralisch-praktische Diskurse erfordern hingegen den Bruch mit allen Selbstverständlichkeiten der eingewöhnten konkreten Sittlichkeit wie auch die Distanzierung von jenen Lebenskontexten, mit denen die eigene Identität unauflöslich verbunden ist.“
Die Diskursethik, die wir jetzt also so nicht mehr nennen dürften, fragt nach den Bedingungen in der Kommunikation, die eine Einigung über moralische Fragen möglich machen. Habermas nimmt dabei an, dass wir das Ergebnis einer solchen Kommunikation dann als gerecht ansehen können, wenn es über eine gerechte Verständigung zustande gekommen ist. Sehen wir uns nun die Bedingungen einer gerechten Verständigung an.
Die zwei Grundsätze der Diskursethik
Die zwei Grundsätze, die Habermas aufstellt, sollen nun das Verfahren der moralischen Argumentation, das Argumentieren in Bezug auf moralische Fragen, legitimieren.
Beim ersten Grundsatz handelt es sich um den «Diskursgrundsatz» und er besagt: «Nur diejenigen Normen dürfen Geltung beanspruchen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden könnten.» Hier geht es also stark um die Teilnahmemöglichkeit – die Partizipation.
Der zweite Grundsatz wird «Universalisierungsgrundsatz» genannt und er besagt: «Jede gültige Norm muss der Bedingung genügen, dass die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen jedes Einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen Betroffenen zwanglos akzeptiert werden können.»
Dieser Grundsatz klingt noch voraussetzungsvoller, soll aber als Prüfstein für die Legitimität herangezogen werden.
Ziel ist dabei zunächst eine Verständigung, dann aber auch die Erreichung eines Konsenses – auch wenn Habermas zugesteht, dass es nicht immer dazu kommen muss. Er wird nur angestrebt. Ethisch-evaluative Fragen des guten Lebens haben hier keinen Platz, da sie nicht theoriefähig sind, wie Habermas meint und einer rationalen Erörterung nicht zugänglich.
Habermas geht hier weit über Kant hinaus, weil nach ihm über das moralisch Richtige nicht der/die Einzelne entscheiden kann, sondern es eine allgemeine Beratungssituation braucht. Moderne, demokratische und pluralistische Gesellschaften können zudem nicht als «ethische» Wertegemeinschaften verstanden werden, sondern vielmehr nur als «Rechtfertigungsgemeinschaften».
Wir können damit sofort erkennen, wie wichtig für einen solchen Ansatz die entsprechenden Institutionen sind: das Rechtssystem, das Parlament und die politische Öffentlichkeit. Hier findet all das statt.
Der öffentlicfhe Gebrauch der Vernunft
Habermas beharrt darauf, dass nur diejenigen Normen Geltung beanspruchen können, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmende eines praktischen Diskurses finden können. Das Universalisierungspostulat besagt dabei, dass die Ergebnisse und Nebenfolgen eines Aushandlungsprozesses von allen akzeptiert werden können müssen. Der Diskursgrundsatz verlangt, dass die Teilnahme an einem rationalen Argumentationsverfahren möglich sein muss.
Nun wird relativ schnell offensichtlich, dass es sich bei den Grundsätzen um äußerst hohe Ansprüche handelt, die wahrscheinlich realiter kaum erfüllt werden können. Doch Habermas besteht darauf, dass wir uns diesen Grundsätzen zumindest annähern sollten.
Ansonsten kämen wir nie zu einem legitimierten Ergebnis von Verhandlungsinhalten. Das Verfahren legitimiert das Ergebnis – außerhalb dessen gibt es keine Legitimierungsinstanz, wollen wir noch von Demokratie sprechen können.
Und wenn wir ehrlich sind, sehnen sich doch viele wieder nach dem «öffentlichen Gebrauch der Vernunft», wie Habermas es formuliert, in einer Öffentlichkeit, die frei und gleichberechtigt für alle Betroffenen zugänglich ist.
Doch die Forderung nach einem rationalen Diskurs ist schwierig einzulösen. Vor allem auch deshalb, weil politische Forderungen per se mit Emotionen verknüpft sind. Politische Partizipation und politischer Diskurs leben von Leidenschaften und der Möglichkeit zum Streit. Habermas fordert hier eine Nüchternheit, die schlussendlich wohl wieder in eine Politikverdrossenheit münden würde.
Gerade in den letzten Jahren haben wir gesehen, dass die politische Öffentlichkeit versucht, sich auf der Straße das emphatische Auftreten für ihre Anliegen zurückzuholen. Auf diese Bedürfnisse müsste eine demokratiepolitische Diskurstheorie definitiv reagieren und es gibt genug Ansätze, die das auch tun.
Dr. Cornelia Mooslechner-Brüll ist akademisch philosophische Praktikerin (Universitätslehrgang “Philosophische Praxis” an der Universität Wien) mit eigener Praxis und Lehrbeauftragte an der Universität Wien, der Universität für Musik und darstellende Kunst und der Hochschule für Agrar- und Umweltpädagogik. Vorstandsmitglied der Internationalen Gesellschaft für philosophische Praxis (IGPP), Vorstandsvorsitzende des Kreises akademisch philosophischer Praktiker*innen (KAPP), Mitglied der Gesellschaft für angewandte Philosophie (GAP) und Mitbegründerin des Instituts für philosophische Praxis und Sorgekultur (IPPS). www.philoskop.org
Bücher der Autorin: Radikale Freiheit. Die fünf alles entscheidenden Fragen, die dein Leben verändern. Goldegg 2022,
Welt neu denken. Der Weltbegriff in Zeiten globaler Umbrüche. Schwabe Verlag 2021
Literaturempfehlungen zum Thema
Georg Römp. Habermas leicht gemacht. Eine Einführung in sein Denken. Köln 2015
Von Jürgen Habermas:
Theorie des kommunikativen Handelns. Band 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. Band 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1981
Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1983
Erläuterungen zur Diskursethik. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1991
Diskursethik. Philosophische Texte: Studienausgabe, Frankfurt am Main 2009
Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft. Reclam, Stuttgart 2001