Interview mit dem Historiker Eckart
Seit Jahrhunderten durchfurchen Seuchen die Menschheitsgeschichte und verändern Gesellschaften. Die Corona-Krise verlangt uns im Moment nicht so große Einschränkungen ab, sagt, Medizinhistoriker Wolfgang U. Eckart. Agnes Polewka sprach mit ihm über Parallelen zur Spanischen Grippe und warum es so wichtig ist, Lehren aus der Geschichte zu ziehen.
Das Gespräch führte Agnes Polewka
Frage: Sie haben sich in Ihrer wissenschaftlichen Laufbahn mit vielen Seuchen beschäftigt – quer durch alle Jahrhunderte. Hat die rasante Verbreitung des Corona-Virus Sie dennoch überrascht?
Wolfgang U. Eckart: Eigentlich nicht. Seuchenverläufe, die schnell kommen und schnell wieder gehen, hat es in der Menschheitsgeschichte sehr oft gegeben. Auch Seuchen mit einer längeren Verweildauer. Die großen Pestzüge im sechsten und im 14. Jahrhundert dauerten mehrere Jahrhunderte an. Sie sind schnell gekommen, aber langsam gegangen. Das war das Problem.
Welche Krankheit im Verlauf der Geschichte ähnelt dem Corona-Virus am ehesten?
Eckart: Am ehesten ähnelt es der Grippe-Epidemie von 1918, der Spanischen Grippe – weil sie in ähnlichen Mustern verlaufen ist. Diese Virus-Pandemie brach in den USA aus und wurde damals mit US-Truppentransportern in wenigen Wochen nach Europa gebracht. Die Seuche verlief in zwei großen Wellen im Frühjahr und Herbst 1918 – mit besonders hohen Sterblichkeiten im Herbst und bis zu 700 Toten täglich in amerikanischen Großstädten.
Riesige Feldlazarette für Hunderte Patienten wurden in Windeseile aus dem Boden gestampft. In der Öffentlichkeit trug man Mundschutz. Die Krankenhäuser waren vollkommen überlastet und nahmen bald keine Patienten mehr auf. Man starb zu Hause meist an schwersten Lungenentzündungen im hohen Fieber, mit Sepis und allgemeinem Organversagen.
Man suchte nach einem Schuldigen
Wann hatte all das ein Ende?
Im Winter 1918/19 flaute die Influenza bald ab. In der Kriegssituation wurde bald auch nach Schuldigen gesucht. In den USA glaubten viele, die Deutschen hätten sie absichtlich mit U-Booten an die Amerikanische Ostküste gebracht. Einige amerikanische Zeitgenossen schlugen sogar vor, das Blut von Grippetoten auf Flaschen zu ziehen und über Berlin abzuwerfen. Am Ende sind der Grippe mit geschätzt 35 bis 60 Millionen Toten mehr Menschen zum Opfer gefallen, als der Weltkrieg Soldaten und Zivilisten getötet hatte.
Welche Maßnahmen in der Corona-Krise erinnern Sie an die Spanische Grippe?
Eckart: Man hat 1918 zum Beispiel auch versucht, die Schulen zu schließen. Man hat darüber nachgedacht, ob man die Kinos und die Theater schließt, wollte den Menschen aber keinen vollkommenen Stillstand, keinen Hausarrest zumuten. Heute wird hier flächendeckend durchgegriffen.
Mit welchem Erfolg geschah dies 1918?
Eckart: Die Isolationsmaßnahmen damals haben für ein paar Wochen funktioniert und kurzfristig zu einem Rückgang der Infektionszahlen geführt. Aber irgendwann hat man beispielsweise die Schulen wieder geöffnet und dann erhöhten sich die Zahlen wieder. Erst nach einem zweiten Höhepunkt der Infektionswelle hatte sich die Grippe sozusagen ausgetobt.
Was ist heute anders?
Eckart: Der große Unterschied zwischen heute und damals ist der, dass wir für die schweren Lungenerkrankungen eine sehr gute Intensivmedizin vorhalten. 1918 gab noch keine entwickelte Intensivmedizin. Die haben wir heute. Es zeigt sich aber, dass wir zu wenige Intensivmedizin-Kapazitäten haben. Es fehlen Beatmungsgeräte, Intensivplätze für solche besonderen Notlagen mit steigenden Krankheitszahlen. Wir kommen jetzt schon in einen Modus, der es nicht erlaubt, planbare Operationen – zum Beispiel Knie- oder Hüftoperationen – in den chirurgischen Kliniken durchzuführen.
Wie ging es nach der Spanischen Grippe weiter?
Eckart: Das Leben ging nach der Krise keineswegs normal weiter, aber das hatte mit der Grippe nichts zu tun. Die große Wirtschaftskrise, die große Inflation kam fast unmittelbar nach dem Abflauen der Grippewelle.
Aus der Geschichte lernen: Man muss besser vorbereitet sein
Wie hat die Gesellschaft sich damals verändert?
Eckart: In den frühen 1920er Jahren hatten die Menschen ein verändertes Lebensgefühl, das sowohl mit dem Ersten Weltkrieg als auch mit der Spanischen Grippe zusammenhing. Man war froh, überlebt zu haben – den Krieg und die Grippe. In dieser Zeit entstand eine Lebensfreude, eine Lebensentfaltung, mit der man vieles kompensierte, zum Teil auch überkompensierte, auf das man vier lange Kriegsjahre und ein Seuchenjahr verzichten musste.
Könnte uns das auch passieren? Eine überbordende Lebensfreude, mit der wir all das nachholen möchten, was wir gerade verpassen?
Eckart: Das kann ich nicht sagen, ich bin kein Prognostiker. Aber ich halte all das, was uns heute an Solidarität aufgebürdet wird, nicht für so groß, als dass wir es nachher über eine exaltierende Lebensweise überkompensieren müssten. Aber wir wissen nicht, wie lange diese Krise andauert. Sie könnte ja auch Monate oder sogar Jahre andauern. Dann wäre die Lage natürlich anders. Dann wären wir nicht mit kurzfristigen Veränderungen konfrontiert oder Ängsten nur für ein paar Wochen, sondern es käme zu schweren Wirtschaftskrisen.
Was können wir in unserer aktuellen Situation aus vergangenen Seuchen lernen?
Eckart: Wir können lernen, dass wir für solche Fälle besser vorbereitet sein müssen. Es zeigt sich ja jetzt schon deutlich, dass wir für einen solchen Massenanfall, auch wenn wir ihn bislang nur mathematisch hochrechnen können, zu schlecht gerüstet sind. Das ist eine Erfahrung, die man schon aus dem Ereignis der Spanischen Grippe hätte lernen können. Aus den alten Seuchen können wir darüber hinaus wenig über diese neue Seuche ableiten, wir können aber immerhin neue Lehren daraus ziehen.
Welche zum Beispiel?
Eckart: Wir können lernen, dass die Solidarität innerhalb der Europäischen Union erst nach vehementen Aufrufen wiederhergestellt werden konnte und dass die Europäische Union offensichtlich ein sehr viel zerbrechlicherer Köper ist, als wir geglaubt haben. Wir können auch lernen, dass wir mit Maßnahmen – um die Seuche zumindest für eine gewisse Zeit einzudämmen – sehr viel früher hätten beginnen müssen!
Es zeigt sich jetzt, dass das Defizit an digitaler Vernetzung in diesem Land auch dazu führt, dass Informationsflüsse nicht so schnell vonstattengehen, wie sie es eigentlich könnten und sollten. Ich denke, wir müssen diese Seuche gut beobachten und dokumentieren und dann daraus unsere Konsequenzen ziehen, auch für die Zukunft. Ob das getan wird? Da bin ich skeptisch. Denn die Vergesslichkeit des Menschen ist sehr groß, was solche Massenereignisse angeht.
Wolfgang U. Eckart (68) ist Professor (em.) für Geschichte der Medizin, bis 2017 Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an der Universität Heidelberg. 1978 zum Dr. med. promoviert, 1986 Habilitation im Fach Geschichte der Medizin. Vor seinem Wechsel nach Heidelberg 1992 war er Professor für Geschichte der Medizin an der Medizinischen Hochschule Hannover. 2019 wurde der Wissenschaftshistoriker mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Seine Forschungsschwerpunkte sind die frühneuzeitliche und neuzeitliche Medizin. Buchtipp: Wolfgang U. Eckart, Medizin und Krieg – Deutschland 1914-1824 (Schöningh, 2014).