Online Magazin für Ethik und Achtsamkeit

Die Entzauberung der Achtsamkeit

Cover Baatz Achtsamkeit

Ein Buch über die Entstehung der modernen Achtsamkeitspraxis

In Ihrem Buch enthüllt die Autorin, wie eine buddhistische, ethisch fundierte Meditationspraxis innerhalb einiger Jahrzehnte zu einem Tool für Manager, Firmen, Krankenhäuser und Militär degenerierte. Eine spannende Lektüre über Achtsamkeit im Wandel der Zeit, lehrreich, gut recherchiert und wissenschaftlich fundiert.

Achtsamkeit  ist heute in aller Munde. Aber was bedeutet Achtsamkeit wirklich? Und wie entwickelte sich Achtsamkeit zum Boom? In ihrem neuen Buch legt die Religionswissenschaftlerin und Philosophin Ursula Baatz den Begriff unter der wissenschaftlichen Linse auf den Seziertisch. Selten habe ich ein so kluges, spannendes und kulturhistorisch interessantes Buch zum Thema Achtsamkeit gelesen.

Ursula Baatz ist hier eine wissenschaftliche Meisterleistung gelungen. Akribisch und sorgfältig hat sie Hintergründe dieser populären Übungspraxis recherchiert, wie 17 Seiten Literaturangaben beeindruckend bezeugen.

In zehn Kapiteln erfahren wir, wie sich die Achtsamkeitsübungen aus Asien stammend ab dem 19. Jahrhundert im Zuge des Kolonialismus und der Modernisierung des Buddhismus durch eine Laienbewegung gewandelt haben. Wie in einem Krimi schickt sie die Leserinnen und Leser auf eine historische Entdeckungsreise. Wir erfahren, wie sich die Achtsamkeitspraktiken mit dem Kulturtransfer aus asiatischen Klöstern langsam ändern und heute in Unternehmen, Krankenhäusern, Schulen, Psychotherapiepraxen, aber auch beim US-Militär Anwendung finden.

Wurzeln der Achtsamkeit im Vipassana

Intention der Autorin und Wissenschaftsjournalistin Ursula Baatz, die auch Zen- und MBSR-Lehrerin ist, war es, den Prozess dieses Kulturtransfers nachzuvollziehen. Als Expertin gibt sie nicht nur detailliert Auskunft über die neuesten neurowissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern auch über die westliche Buddhismus-Rezeption.

Interessant zu erfahren, wie Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts eine Vipassana-Renaissance stattfand, wobei man wissen muss, dass die Achtsamkeitsmeditation auf der Vipassana-Meditation beruht. Ursprünglich von Mönchen, später von Laien in Burma (heute Myanmar) praktiziert, verbreitete sich diese Erneuerungsbewegung Anfang der 1950er Jahre in Thailand und Sri Lanka.

In diese Länder brachte sie der aus Deutschland stammende buddhistische Mönch Nyanaponika. In den 1960er Jahren brachen dorthin viele junge Leute aus dem Westen und der USA auf. Darunter befanden sich heute weltweit bekannten Meditationslehrende, darunter Jack Kornfield, Sharon Salzberg oder Joseph Goldstein, die Vipassana ab den 1970er Jahren in den USA bekannt machten.

Die Vipassana-Lehre für Laien, die in Zeiten der Kolonialherrschaft helfen sollte, die buddhistische Gemeinschaft zu bewahren, stieß auf diese Weise in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts auf internationales Interesse.

Moderne Wegbereiter der Achtsamkeit

Global bekannt wurde sie durch Jon-Kabat-Zinn, dessen MBSR-Programm sich u. a. auch auf diese Tradition zurückführen lässt. „Aus einer monastischen Übung wird ein medizinisch und psychologisch evaluiertes-empfohlenes Training“, so die Autorin, die ihm viele Kapitel widmet.

Auch dem vietnamesischen Mönch Thich Nhat Hanh, einem anderen modernen Wegbereiter der alltagstauglichen Achtsamkeitspraxis, schenkt sie volle Aufmerksamkeit. Neben den klassischen Übungen sei für ihn der Beziehungsaspekt der Verbundenheit (Interbeing) und damit die Ethik ein integrales Moment der Achtsamkeit. Aus seiner Sicht kann sie nicht ohne Grundlage der ethischen Regeln des Buddhismus geübt werden.

In einem Exkurs widmet sie sich auch den Analysen von Akincano Weber und dem Mönch Analayo und lässt uns die Wandlung des Begriffes Achtsamkeit vom ursprünglich buddhistischen Begriff Sati (Palikanon) zu “mindfulness” historisch nachvollziehen. Sati, Achtsamkeit, ist ein Aspekt des Achtfachen Weges des Buddha und Achtsamkeit dabei stets motiviert durch den Wunsch nach dem Erwachen.

Folgenreich sei vor allem gewesen, dass der deutsche Mönch Nyanaponika Achtsamkeit und Aufmerksamkeit nicht klar voneinander unterschieden hätte und so der ethische Aspekt vernachlässigt wurde. Achtsamkeit konnte daher zum Medium der Disziplinierung für Militär und Industrie werden, so die Schlussfolgerung der Autorin.

Achtsamkeitsboom – Folge eines industrialisierten Bewusstseins?

Interessant zu lesen, dass es eine Ausstellung in Wien über das Entstehen eines „industrialisierten Bewusstseins“ war, die sie zu diesem Buch inspirierte. So fragte sie sich, inwiefern der Achtsamkeitsboom letztlich mit der Industrialisierung, der modernen atemlosen Arbeitswelt und der Zunahme von Stress und Burn-out einhergeht.

Achtsamkeitspraktiken werden als Teil des „gesellschaftlichen Nützlichkeitskalküls“ durch wissenschaftliche Forschung legitimiert, so Baatz.  Ja, sie geht so weit, Achtsamkeit heute als Faktor und Tool für Erfolg und Psychohygiene zu bezeichnen.

Doch bei aller Kritik wird spürbar, wie sehr sie die Achtsamkeit schätzt und auch Anregungen gibt, um die fehlenden ethischen Aspekte wieder zu integrieren. „Wahre Achtsamkeit“, so die Autorin, die sich im Schlusswort auch auf Hartmut Rosa bezieht, „öffnet für Resonanzen und handelt aus der Erfahrung der Verbundenheit und Verletzbarkeit des Lebens.“

Ursula Baatz entzaubert in ihrem Buch Achtsamkeit und entreißt dem Begriff das schillernde Glitzerkleid. Was sie dabei enthüllt, ist vor allem, wie vielschichtig und abhängig vom kulturhistorischen Kontext der Begriff Achtsamkeit ist. Und wie er heute als Ware von der neoliberalen Gesellschaft instrumentalisiert werden kann und gleichsam die Sehnsucht der westlichen Welt nach Glück, Entspannung, Erholung und Wohlbefinden spiegelt.

Wer mehr über die Hintergründe der Achtsamkeit erfahren will, der sollte dieses intelligente Buch unbedingt lesen. Die Lektüre ist keine leichte Kost, aber sie lohnt sich!

Michaela Doepke

Ursula Baatz, Achtsamkeit. Der Boom. Hintergründe, Perspektiven, Praktiken. 2023 Vandenhoeck & Ruprecht Verlage, Göttingen.

Dr. Ursula Baatz ist Religionswissenschaftlerin und Philosophin, Achtsamkeits- und Zen-Lehrerin, Lehrbeauftragte für interkulturelle Philosophie und Ethik an der Universität Wien und Klagenfurt und langjährige Wissenschafts- und Religionsjournalistin beim ORF.

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