Zum Tod von James Lovelock, Begründer der Gaia-Theorie
Der Wissenschaftler James Lovelock, der Ende Juli 2022 verstarb, revolutionierte das herrschende wissenschaftliche Weltbild: Er entwickelte eine Theorie der Erde als lebendigem Organismus. Von den Bakterien bis zum Menschen kooperieren alle unbewusst miteinander. Wer nicht kooperiert, stirbt aus.
James Lovelock (1919-2022), der Begründer der Gaia-Theorie, starb am 26. Juli 2022 an seinem 103. Geburtstag . Mit seiner revolutionären Idee, die Erde als einen lebendigen Organismus zu beschreiben, beeinflusste er die Ökologie-Bewegung tiefgreifend. Doch in der Wissenschaft stieß er lange auf Ablehnung, unterstellte man ihm doch mit seiner ‘Gaia-Theorie’ religiöse Absichten. Diese lagen Lovelock, bis zu seinem letzten Atemzug ein Wissenschaftler durch und durch, jedoch völlig fern.
Er beschrieb seine Theorie so: „Ich sehe die Erde oder Gaia folgendermaßen: Sie ist ein sich selbst regulierendes System, das sich kurz nach der Entstehung des Lebens gebildet hat. Passiert ist das wohl folgendermaßen:
Wenn sich Organismen auf einem Planeten entwickeln und sich zahlenmäßig stark verbreiten, dann verändern sie – ob sie das wollen oder nicht – die Zusammensetzung der Atmosphäre, des Bodens und des Wassers. Indem sie das tun, verändern sie ihre Umwelt, das Klima, eigentlich alles. Und dann muss sich das Leben diesen veränderten Bedingungen anpassen.
Lebewesen aller Art passen sich also nicht an eine tote Welt an, sondern an eine Welt, die ihre Vorfahren gerade erst gemacht haben. Wir hatten das Glück, dass das frühe System, das ich Gaia nenne, ein stabiles Gleichgewicht gefunden und erhalten hat und uns bis heute eine angenehme Umwelt bietet.
Gaia verhält sich dabei wie ein lebender Organismus: sie reguliert ihre Temperatur, so wie wir es tun, sie kontrolliert die chemische Zusammensetzung der Atmosphäre. Und dabei lässt sie nichts beim Alten. Sie ist ein evolutionäres System.“
Bruch mit der Wissenschaft
Was der englische Wissenschaftler, Arzt und Atmosphären-Chemiker mit dieser Aussage wagte, war in den nüchternen 1970er Jahren kaum weniger als beruflicher Selbstmord. Dem allgegenwärtigen materialistischen Paradigma, das die Erde als einen zufällig durch das Universum treibenden Gesteinsbrocken beschrieb, mit der Theorie eines lebenden Planeten entgegenzutreten, hieß sich weit außerhalb des wissenschaftlichen Mainstreams zu stellen.
Was seine Kollegen so provozierte, war die Mischung von nüchterner Naturwissenschaft und der Symbolik alter Mythen, sagt der Kosmologe und Astro-Physiker Harald Lesch von der Universität München. „Wenn er über ökologische Systeme oder vernetzte Systeme geschrieben hätte und dass die Erde ein vernetztes System ist, dann wäre doch niemand aufgestanden“ so Lesch.
„Aber dass er etwas benutzt aus der griechischen Mythologie, Gaia auch noch, also die ‘Mutter der Götter’ … das hatte bislang noch niemand gemacht. Deswegen wurde er abgelehnt. Allein die Verwendung des Begriffes ‘Gaia’ machte ihn da von vorn herein zum Außenseiter. Und die Wissenschaft kann sehr unangenehm sein. Wer da ein bisschen zu sehr von der Marschrichtung ab rückt, der hat schon seine Schwierigkeiten.“
Von jetzt an galt James Lovelock in Forscherkreisen als schräger englischer Kauz, schlimmer noch: als ein versponnener Daniel Düsentrieb des New Age, als esoterischer Spinner. Wissenschaftliche Magazine schickten seine Artikel zurück, Konferenzen verweigerten ihm seinen Auftritt, Kollegen wollten nicht mehr mit ihm reden. Von einer ‚lebendigen Erde’ zu reden, kam für sie einem Tabubruch gleich und bedeutete einen Bruch der grundlegenden Trennung von Wissen und Glaube.
Wurde ihm doch unterstellt, er habe mit Gaia einen bewusst denkenden Superorganismus vorgeschlagen. Noch in hohem Alter schüttelte er erstaunt den Kopf, wenn er an dieses Spießrutenlaufen dachte. In einem Interview 2010 äußerte er sich dazu so:
„Es gibt überhaupt keinen Grund, der lebendigen Erde gleich auch bewusste Absicht oder Bewusstsein zu unterstellen, nur weil sie ihr Klima und ihre Temperatur selbst regulieren kann. Das ist ein gänzlich unbewusster sich automatisch entwickelnder Prozess. Selbst wenn die Gaia-Theorie eines Tages vollständig bewiesen sein sollte – was ich nicht vorhersagen kann – sollte man sie vielleicht einfach als eine Metapher verstehen.“
Explosive Mischungen auf der Erde
Trotz des Gegenwinds aus der Wissenschaft hatte alles hochwissenschaftlich angefangen: Rund 40 Jahre ist es her, dass ein Team von angloamerikanischen Wissenschaftlern sich im Auftrag der NASA daran machte, auf unserem Nachbarplaneten nach Leben zu suchen.
James Lovelock, britischer Wissenschaftler und Erfinder, übernahm die Aufgabe, alle verfügbaren Daten über das Atmosphären-Gemisch unseres Nachbarplaneten zu sammeln und sie mit den Daten der Erde zu vergleichen, wo Leben blüht.
Für den Mars fiel das Ergebnis negativ aus. Doch der Mann aus Cornwall musste überrascht feststellen, dass die Bedingungen hier, auf unserem Heimatplaneten, alles andere als ruhig, ausgeglichen und im erwarteten Gleichgewicht waren. Denn hier auf der Erde kooperieren explosive Mischungen – wie Sauerstoff und Methan – miteinander, C02 und Schwefel sind in riesigen Mengen vorhanden.
Doch statt das sich – wie in jedem chemischen Versuch – die Gase gleichmäßig verteilen, stellte er fest, dass sie in einem geheimnisvollen Ungleichgewicht bleiben. Eine Schieflage, die das Leben anscheinend braucht. Wie aber blieb dieses Ungleichgewicht über die Jahrmillionen erhalten, wo war die ordnende Hand?
James Lovelock vertiefte sich fasziniert in dieses Muster aus Ungleichgewichten, Symbiosen, Ergänzungen und Konkurrenzen. Das war der Moment, in dem die ‘Gaia-Theorie’ in seinem Kopf Gestalt annahm. Den Moment, der sein ganzes weiteres Leben prägen sollte, beschrieb er so:
„Ich erinnere es wie heute. Ich war im Büro, als mir plötzlich klar wurde, dass diese völlig unausgeglichene Erdatmosphäre von irgendetwas reguliert wurde. Und da sie aus Produkten von Lebewesen zusammensetzt, war klar, dass das Netz des Lebens die Zusammensetzung unserer Luft reguliert. Diese Idee brach nur so aus mir heraus. Und damit war die Idee von Gaia geboren, wenn auch noch nicht unter diesem Namen, sondern als großes selbst regulierendes System.“
Erst ein späteres vertrautes Gespräch mit seinem Nachbarn im englischen Westen, dem Literaturnobelpreisträger William Golding führte dazu, dass seine Theorie den Namen der alten griechischen Erdgöttin bekam. Der Literat empfahl seinem Nachbarn: „Jim, wenn Du so eine Idee hast, braucht sie einen guten Namen. Ich würde sie die ‘Gaia-Theorie’ nennen!“
Wer nicht kooperiert, wird aussterben
Heute findet sich zu diesem Begriff allein im Internet 40 Millionen Links, zahllose Bücher sind dazu veröffentlicht worden, Forschungsprojekte haben Lovelock vielfach bestätigt. Und immer noch blieb Lovelocks Beschreibung von Gaia simpel und nachvollziehbar:
„Es ist das ganze System, das sich selbst im Gleichgewicht hält. Es ist ein sich entwickelndes System, in dem alle lebenden Organismen – von der Bakterie bis zu uns Menschen – unbewusst mit einer sich ebenso entwickelnden Umwelt kooperieren, also mit dem Gestein, der Luft und den Ozeanen. Das Ganze ist eine eng verknüpfte sich selbst regulierende Einheit. Sie funktioniert wie ein Prozess – das meine ich, wenn ich von der Evolution einer lebendigen Erde spreche.“
Und er ergänzte seine so naheliegende und trotzdem revolutionäre Idee lächelnd: „Sich vorzustellen, dass sich alles unabhängig voneinander entwickelt hat, wäre ebenso absurd wie die Vorstellung, dass sich in unserem Körper die Knochen und das Skelett unabhängig vom Fleisch entwickeln könnte. Das geht nicht, denn es ist eins. Genauso ist es mit der Erde.“
Die Regeln von Gaia, die James Lovelock erforschte, sind klar und einfach und in Übereinstimmung mit der Evolutionstheorie des großen Charles Darwin: Die Organismen, die die meisten Nachkommen hinterlassen, sind erfolgreich. Der einzige Unterschied, den Gaia macht, beschrieb er in dem Interview in seinem Garten am Rand des englischen Dartmore: „Jeder Organismus, der die Umwelt für seine Nachkommen verbessert, wird aufblühen, während jene Organismen, die dabei versagen und Gaia verschmutzen oder zerstören, aussterben werden. Das ist eine große Warnung an uns, denn im Moment gehören wir Menschen eher zur zweiten Kategorie als zur ersten.“
Lovelock hinterfragt wertfreie Wissenschaft
Was James Lovelock da erdacht hatte, war eine wissenschaftlich gut begründete Hypothese, die plötzlich aber auch ethische und moralische Maßstäbe in eine Wissenschaftswelt hereinbrachte, die sich sonst so gerne als ‚wertfrei’ versteht. Deshalb musste sie dort – trotz aller analytischen Exaktheit – erst einmal auf kompromisslose Ablehnung stoßen.
Die neue Sichtweise, die er mit der Metapher von Gaia damit gerade auch der wachsenden Umweltbewegung anbot, war nicht länger die einer Ökologie als großem Reparaturbetrieb für eine kaputte Maschine. Statt dessen konnte der ‘lebende Planet Gaia’ Grundlge eines neuen organismischen Weltbilds werden, das von dem distanzierten Begriff der ‘Umwelt’ abrückte und den integrierenden Begriff der ‘Mitwelt’ anbot.
Lovelock entdeckte unbeirrt überall die größeren Zusammenhänge eines sich selbst regulierenden Organismus Erde, obwohl die Erkenntnisse den hochkarätigen Wissenschaftler immer mehr ins Abseits führten. Denn seine Gedanken waren radikal, forderten Stellungnahme und Verantwortung.
Lovelock zog sich zurück, um im Schutz seiner Farm in Cornwall darauf zu warten, dass seine Gedanken irgendwann den Mainstream der Wissenschaft erreichten. Spät, aber nicht zu spät – zu seinem 100. Geburtstag – attestierten ihm zahlreiche renommierte Naturwissenschaftler, dass seine Idee im Prinzip richtig sei: Die Erde sei nach dem heutigen Stand der Forschung viel mehr ein Organismus oder lebendes System, als eine Maschine. Ein Paradigmenwechsel war eingeläutet!
Im hohen Alter hat der Forscher, Erfinder und Ökophilosoph schließlich auch seinen Widerstand gegen jene Zeitgenossen aufgegeben, die sein Gedankengebäude mit der alten neuen Göttin zu einer Öko-Religion machen wollen. Die Verehrung von Mutter Erde, das weiß er, schläft im Menschen, seit es ihn gibt. Spuren der alten Göttin lassen sich in allen Religionen finden, mehr oder weniger versteckt. Wissenschaftlich oder religiös, Gaia berührt eine alte Ader.
Dr. Geseko von Lüpke ist freier Journalist und Autor von Publikationen über Naturwissenschaft, nachhaltige Zukunftsgestaltung und ökologische Ethik.