Wir brauchen die heilende Hinwendung zum anderen
Eine neue Ethik des Seins auf der Grundlage des Mitgefühls mit allen Wesen zu entwickeln, sei eine Überlebensbedingung für diese Welt, so der Religionswissenschaftler Michael von Brück von der Ludwig Maximilians-Universität.Michael von Brück hielt im Rahmen einer Veranstaltung der Dana in München einen Vortrag über “Karuna”, das Mitgefühl mit allen Lebewesen. Dieses ergebe sich aus der Einsicht, dass alle Wesen in gegenseitiger Abhängigkeit stehen, so der Religionswissenschaftler und Zen-Lehrer.
Karuna ist ein zentraler Begriff der buddhistischen Geistesschulung und Ethik. Er beschreibt die Geisteshaltung der Liebe und des tätigen Mitgefühls. Bedingung für deren Entwicklung ist die Erfahrung der Einheit alles Seienden. „Unter Karuna verstehe ich nicht nur Mitgefühl, sondern die heilende Hinwendung zu allen Wesen“, so von Brück, der sich weltweit für den interreligiösen Dialog engagiert.
Schopenhauer und die Ethik des Mitgefühls
In diesem Kontext zitierte von Brück den berühmten deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer, wonach Ethik auf Mitgefühl zu begründen sei und nicht auf Pflicht. Die Ethik Schopenhauers schließt den Schutz der Tiere mit ein. Schopenhauer hatte die Einsicht, dass Menschen und Tiere nicht getrennt voneinander sind. Mit dieser Sicht formulierte er eine Ethik des Mitgefühls, wie sie sich bereits in den Werken von Shantideva, einem indischen Gelehrten und Mönch aus dem 8. Jahrhundert, niedergeschlagen hatte. Er zitierte aus dessen Werk “Bodhicaryavatara”, das zu den meistzitierten buddhistischen Texten zählt.
Vor diesem philosophischen Hintergrund sah von Brück die Grundlagen einer Ethik als Haltungen der Hoffnung, Dankbarkeit und Achtsamkeit gegeben. Dabei verband er die Hoffnung mit der Zukunft, die Dankbarkeit mit der Vergangenheit und die Achtsamkeit als Bewusstsein über sich selbst und der wechselseitigen Abhängigkeit mit allen Wesen mit der Gegenwart.
Für die Anwendung einer ethischen Lebenspraxis nannte er drei Möglichkeiten: Erstens den Kant`schen Imperativ des „Du sollst!“, den alle Religionen und Kulturen auf der Welt teilen. Von Brück: „Dieser ist in der Geschichte bisher nicht sehr wirkungsvoll gewesen. Er verändert das menschliche Bewusstsein nicht wirklich.“
Zweitens die Möglichkeit, Ethik in Form von Ritualen und Gebeten zu leben. Von Brück: „Aber das reicht nicht. Wir brauchen eine Erkenntnis, dass der Mensch gar nicht anders kann, als mit Karuna zu handeln. Diese Handlungsprämisse bezeichnete er als „Ethik des Seins“, wie sie bereits der Mystiker Meister Eckhart begründet hatte.
Lernen, das Bewusstsein zu steuern
Von Brück: „Die Ethik des Seins verändert das Bewusstsein.“ Die Konsequenz für den Geisteswissenschaftler von Brück. „Wir müssen lernen, das Bewusstsein zu steuern.“ Doch wie ist ein solcher Lernprozess möglich? Grundlage sei es zunächst, ein Bewusstsein über die eigene Wahrnehmung zu erlangen. Ein erster Kontakt erfolge über die Wahrnehmung durch die Sinne. Dabei können wir ein Bewusstsein darüber erlangen, dass wir von Anfang an selektiv und unterschiedlich wahrnehmen.
„Wir kommen nicht ohne Vorwissen und Vorprägungen auf die Welt.“ Außerdem ordnen wir die Dinge durch unsere Gefühle wie angenehm, unangenehm und neutral. Dabei könne man sich fragen, warum wir in dieser Weise wahrnehmen. „Schon diese Erkenntnis verändert unsere Einstellung.“
Die nächste Stufe könne man durch achtsames Wahrnehmen einüben. „Wir nehmen etwas als etwas wahr.“ Doch bevor wir schon einen Gegenstand betastet haben, hätten wir bereits ein inneres Bild von ihm, ein Vorurteil. Nach Jahren der Übung könne man so die eigenen Gedanken kontrollieren. „Wir lernen durch ein achtsames Bewusstsein, die Dinge ohne Vorurteil wahrzunehmen, so wie sie im jetzigen Augenblick sind.“ Eine solche Praxis sei heilende Hinwendung zu den Wesen.
Von Brück bezeichnete dieses Bewusstseinstraining als Möglichkeit, aus der Ethik des „Du sollst“ in die Ebene des „Du kannst“ zu gelangen. „Mitgefühl und Erkenntnis sind lediglich zwei Seiten einer Medaille.“ Das zu erlernen, sei eine Überlebensbedingung für unsere Welt.
Weitere Infos unter:
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Michaela Doepke
Liebe Michaela,
sehr schöner Artikel. Vielen Dank! Von Brück sagt also, dass durch eine Ethik des Seins vom “Sollen” ins “Können” bzw. “Handeln” kommt. Neben dem bloßen Wahrnehmen gehört für mich aber darüberhinaus auch ein Erkennen dazu (dies schliesst von Brück aber auch gar nicht aus).
Ein Erkennen, dass die anderen Menschen und Lebewesen, also auch Tiere, in ihrem grundlegensten Wesen nichts anderes wünschen als ich selbst auch.
Dass es bisher an der Umsetzung dieser Erkenntnis ins Handeln gehapert hat, liegt wahrscheinlich an der mangelnden Einübung, sprich des Sich-Bewusstmachens und Gewahrwerdens und das in jedem Augenblick.