Die 1. Achtsamkeitsübung
Der Meditationsmeister Thich Nhat Hanh hat fünf Achtsamkeitsübungen entwickelt, entsprechend allgemein anerkannten ethischen Richtlinien. Yesche U. Regel stellt die erste Regel vor: nicht töten, Leben schützen, denn jedem Wesen ist das Leben das Kostbarste.
Ethik ist das Fundament religiöser und nicht-religiöser Lebensentwürfe. Im Kern geht es darum, andere nicht zu verletzen und ihre Bedürfnisse zu achten.
In den verschiedenen Kulturen sind ethische Regeln entstanden, etwa die zehn Gebote im Christentum oder die fünf klassischen Regeln im Buddhismus. Der vietnamesische Meditationsmeister Thich Nhat Hanh hat in Anlehnung daran „Fünf ethische Richtlinien“ entwickelt, auch „Die Fünf Achtsamkeitsübungen“ genannt.
Es sind: Leben schützen, Großzügigkeit üben, sexuelle Beziehungen auf der Basis von Liebe und Verantwortung pflegen, achtsames Sprechen und bewusster Umgang mit Konsum- und Rauschmitteln.
Der Friedensaktivist hat hier in faszinierender Weise versucht, die Ethik lebensnah, anschaulich und praktisch werden zu lassen. Dabei berücksichtigt er die Gegebenheiten des Lebens in der globalisierten Welt. Dadurch werden uns die Augen geöffnet für die globale Dimension unseres Handelns.
Yesche U. Regel stellt die Übungen in einer Serie vor und beginnt mit der 1. Richtlinie: Nicht töten – Leben schützen.
Ehrfurcht vor dem Leben
Thich Nhat Hanh ermuntert uns, die folgende Achtsamkeitsübung immer wieder in einer kleinen Zeremonie zu lesen und neu zu bekennen. So möchte ich die Leser ermutigen, es auch informell zu versuchen, diese Übungen auf sich zu nehmen und mit ihnen zu arbeiten.
Im Bewusstsein des Leidens, das durch die Zerstörung von Leben entsteht, bin ich entschlossen, Mitgefühl und Einsicht in das „Intersein“ zu entwickeln und Wege zu erlernen, das Leben von Menschen, Tieren, Pflanzen und unserer Erde zu schützen.
Ich bin entschlossen, nicht zu töten, es nicht zuzulassen, dass andere töten, und keine Form des Tötens zu unterstützen, weder in der Welt noch in meinem Denken oder in meiner Lebensweise.
Im Wissen, dass schädliche Handlungen aus Ärger, Angst, Gier und Intoleranz entstehen, die ihrerseits dualistischem und diskriminierendem Denken entspringen, werde ich mich in Unvoreingenommenheit und Nicht-Festhalten an Ansichten üben, um Gewalt, Fanatismus und Dogmatismus in mir selbst und in der Welt zu transformieren.
Der Anlass für die Übung des Nicht-Tötens, der Gewaltlosigkeit, was nichts anderes bedeutet als Leben zu bewahren, ist das Bewusstsein in die Realität des Leidens, das entsteht, wenn Leben gewaltsam zerstört wird.
Kein Lebewesen will grausam behandelt, verletzt oder getötet werden. Und dennoch geschieht dies überall, oft mit Kalkül, mit irgendeinem Plan im Hintergrund, z.B. dass ein gewaltsamer, militärischer Eingriff alternativlos sei.
Oder es wird vorgegeben, dass es notwendig sei, Tiere der Lebensmittelindustrie zuzuführen, egal wie und in welcher Menge. Oder es wird behauptet, dass wir als Menschen das Recht besäßen, den Planeten zur Erfüllung unserer eigenen Wachstumswünsche auszubeuten.
In diesen Einstellungen zeigt sich ein eklatanter Mangel an Mitgefühl. Man neigt dazu, die Zerstörung des Lebens in Kauf zu nehmen, gerade so, als hoffe man, dass es Soldaten und Zivilisten, die durch Waffengewalt verletzt und getötet werden, nicht allzu viel ausmachen würde, zerfetzt oder schwer verwundet zu werden.
Tiere, die wir in kleinen Gruppen oder einzeln liebenswürdig und putzig finden, lassen wir zu Tausenden in engen Ställen stehen. Wir ignorieren die unvorstellbar grausamen Umstände, unter denen sie getötet werden, so lange z.B. die Putenbrüste unseren Salat irgendwie pikanter, schmackhafter und abwechslungsreicher erscheinen lassen.
Wir bringen es fertig den Anblick von gefüllten Fischernetzen irgendwie idyllisch zu finden und vermeiden es, genauer hinzuschauen und Empathie für die in Panik bis zum Verenden zappelnden Fische, gefangen oft auch in viel zu großen Riesennetzen, zu entwickeln.
Auch wenn wir selbst nicht töten, so sind wir doch vielfach in das Töten verwickelt. Die erste Achtsamkeitsübung lädt uns ein, dafür aufmerksam und sensibel zu werden.
Verantwortung entspringt dem Gefühl des Verbundenseins
Der Lebensstil unserer sogenannten zivilisierten Gesellschaften nimmt den Verbrauch und die Zerstörung der natürlichen Ressourcen in Kauf und hinterlässt unglaubliche Mengen Müll und Gifte. Die Liste der Grausamkeiten ließe sich endlos fortsetzen und diese Tatsachen sind heutzutage auch allgemein bekannt.
Der Grund dafür, dass viele Menschen trotz Religionen, Gesetzgebung und der Anerkennung einer grundlegenden Moral, diese kollektive Grausamkeit aufrecht erhält, ist die Abwesenheit einer tieferen Einsicht in die Verbundenheit mit allen Wesen.
Wir wissen zwar, dass alle Lebewesen ähnliche Bedürfnisse und Ängste haben wie wir. Wir sehen, wie wir alle zusammenhängen und voneinander abhängig sind. Aber aufgrund von Selbstbezogenheit und der Dominanz unserer subjektiven Gewohnheiten und Interessen, neigen wir dazu, diese Verbundenheit zu ignorieren.
Deswegen hat Thich Nhat Hanh den Begriff „Intersein“ geprägt, das Miteinanderverbundensein, und das Bewusstseins, dass viele Faktoren, Erfahrungen und Umstände miteinander zusammenhängen.
Aus diesem Verständnis kann sich ein stärkerer Sinn von Verantwortung ergeben, eine Entschlusskraft, nicht mehr zu Gewalt, Grausamkeit und Töten beizutragen, auch nicht indirekt durch Ignorieren, Gutheißen oder Mitmachen.
Der Konsum von Artikeln bestimmter Konzerne und Firmen, die Mitarbeit bei solchen Unternehmen, der Dienst im Militär, das Wählen von Parteien, die ignorieren, was Wachstum, wirtschaftliche Expansion und Militäreinsätze an struktureller Gewalt mit sich bringen, das alles kann zur Übung des Verweigerns oder Nicht-Mitmachens im Sinne des „…keine Form des Tötens zu unterstützen…“ werden.
Die innere Haltung des Schützens
Der Ausdruck im Text „…nicht zuzulassen, dass andere töten…“ klingt schwer umzusetzen. Ein direkter Eingriff ist in vielen Situationen natürlich unmöglich. Aber es geht auch um die innere Haltung: dass wir dem Töten, das wir beobachten oder von dem hören oder lesen, die Unterstützung entziehen. Dazu gehört, dass wir im eigenen Denken sehr klar und mitfühlend sind. All das kann entwickelt und vertreten werden, auch wenn es viel Bewusstheit und geistige Stärke benötigt. Je mehr wir üben, umso leichter wird es.
Die Richtlinie ist eine Ermutigung dazu, einen entsprechenden Lebensstil zu pflegens, der so deutlich den Entschluss zur Gewaltlosigkeit verkörpert, dass dadurch auch andere inspiriert werden.
Nach den Erfahrungen des Vietnamkrieges ist diese Formulierung ein leidenschaftlicher Appell des Verfassers für einen Pazifismus, der alle Lebensformen einbezieht. Vegetarisches Essen, ein rücksichtsvoller Umgang mit den Ressourcen, ein bewussteres Konsumverhalten – all das gehört somit zur Praxis des Nicht-Tötens.
Die Ursachen für Gewalt in sich selbst beenden
Die erste Achtsamkeitsübung erwähnt zudem die emotionalen Ursachen für „schädliche Handlungen“, also die Ursachen für individuelle und institutionalisierte Gewalt, für Grausamkeit, Fanatismus, die Ausbeutung des Planeten, den Missbrauch menschlicher Arbeitskraft, Dogmatismus: „Ärger, Angst, Gier und Intoleranz“.
Vor allem diejenigen, die meditieren und Achtsamkeit praktizieren, können hier die Aufforderung sehen, in ihrer Übung zu lernen, friedfertiger, verbundener und altruistischer zu werden. Dies lenkt die Meditationspraxis weg von nur ganz persönlichen Entwicklungszielen hin zu einem „Kompetenz-Training“, so dass wir von Innen heraus fähig werden, konsequent gewaltfrei und rücksichtsvoll allem Lebenden gegenüber sein zu können.
Versuchen wir es. Lesen wir diese Achtsamkeitsübung eine Weile jeden Morgen – oder wenigstens ab und zu – und überprüfen immer wieder, in welcher Verfassung unser Geist ist. Können wir den Geist mehr und mehr an der Gewaltlosigkeit ausrichten? Durchdringt die Haltung, Leben zu schützen, unseren Alltag und unser Leben?
Trägt sie dazu bei, Entscheidungen zu treffen, unsere Arbeit entsprechend auszurichten? Hilft sie uns, unser Konsum- und Wählerverhalten zu überprüfen und unterscheiden zu lernen, was wir und andere wirklich benötigen und wünschen bzw. ganz klar darin zu werden, was wir selbst und andere nicht wirklich wollen können?
Fortsetzung folgt mit der 2. Achtsamkeitsübung.
Yesche U. Regel ist freiberuflicher buddhistischer Lehrer für Meditation und Studienthemen. Er war viele Jahre buddhistischer Mönch. Heute leitet er das Paramita-Projekt in Bonn. www.paramita-projekt.de
Weitere Informationen:
Hier geht es zu den fünf Achtsamkeitsübungen
Thich Nhat Hanh. For a Future To Be Possible. ReadHowYouWant 2012
Dieses Buch erschien im Deutschen unter dem Titel „Die fünf Wege zum Glück“. Es ist nur noch als Audio-CD erhältlich, Theseus (Herder) 2006
Gut sein – und was der Einzelne für die Welt tun kann. O.W. Barth Verlag 2014
Am Ende dieses Buches (ab Seite 107) gibt es ein eigenes Kapitel über die Achtsamkeitsübungen.
Vielen Dank!
Ein hervorragender Artikel, spricht mir ganz aus dem Herzen.
Ein sehr guter Artikel mit sehr anschaulichen Beispielen – vielen Dank dafür ?
Ich finde es allerdings schade, dass im Artikeln nur von vegetarischem Essen die Rede ist. Thay hat selbst schon viele Jahre die vegane Ernährung praktiziert: https://www.christiankoeder.com/2022/01/thich-nhat-hanh-on-veganism.html und auch propagiert.