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Mit gutem Beispiel vorangehen

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“Zu vergeben ist tatsächlich die beste Form des Eigennutzes,” sagt Bischof Desmond Tutu. |
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Die Goldene Regel, Teil 4

Das eigene Verhalten nicht davon abhängig machen, wie andere handeln, ist ein wesentlicher Aspekt der Goldenen Regel. Es bedeutet auch, mit gutem Beispiel voranzugehen und den ersten Schritt zur Versöhnung zu tun.<!–more-→

Sie haben es sicher schon einmal gesehen: das kleine Schild in den ICE-Zügen der Deutschen Bahn, auf dem in vier Sprachen zu lesen ist: „Bitte verlassen Sie den Raum so, wie Sie ihn antreffen möchten.“ Solche Schilder beobachte ich immer häufiger an öffentlichen Orten, zum Beispiel in Cafés, Schulen, Gemeindehäusern und Firmenräumen.

Die Goldene Regel fordert mich auf, die Initiative zu ergreifen, den ersten Schritt zu tun, mit gutem Beispiel voranzugehen – statt abzuwarten, was die Anderen mir tun, so dass ich mich gegebenenfalls revanchieren kann. Das klassische Beispiel dafür ist das bekannte Gleichnis Jesu vom barmherzigen Samariter.

Durch Einfühlung in den Anderen, der ist wie ich, der leidet und Schmerz empfindet wie ich, der auch als Fremder und Andersgläubiger Teil meiner Ich-Identität ist, handle ich barmherzig. Und ich weiß nicht und mache mein Handeln nicht davon abhängig, ob der Andere es mir je vergelten kann. Aber läge ich selbst durch Unfall oder Raub im Straßengraben, ist klar, was ich mir von einem Vorübergehenden wünschen würde.

Die Weisheit des Verzeihens

Ein anderer für das Alltagsleben unverzichtbarer Aspekt der Goldenen Regel ist das gegenseitige Verzeihen und Vergeben. Als unvollkommene und egoistische Menschen, die wir eben auch sind, fügen wir einander immer wieder kleine und große Verletzungen zu.

Wir machen Fehler, wir verhalten uns falsch. Deshalb sind wir darauf angewiesen, uns gegenseitig zu verzeihen, damit unsere Beziehungen aufhören, fixiert zu bleiben auf vergangenes Unrecht. Damit sie von „Altlasten“ befreit werden und sich weiterentwickeln können.

Dem Dalai Lama zufolgebesteht die Weisheit des Verzeihens gerade darin, dass der Verzeihende auch selbst etwas davon hat, dass er anderen verzeiht. Vergebung ist nicht ein mehr oder minder heroischer Akt des Altruismus, sondern hat etwas mit aufgeklärtem Eigennutz zu tun:

„Wenn ich gegenüber denen, die mir Leid zufügen, negative Gefühle entwickle, zerstört das nur meinen Seelenfrieden. Aber wenn ich ihnen vergebe, empfinde ich innere Ruhe“ (Dalai Lama. Die Weisheit des Verzeihens. Ein Wegweiser für unsere Zeit, Bergisch-Gladbach 2005, S. 49f. Zum „aufgeklärten Eigennutz“ vgl. ebd. S. 148).

Im selben Sinne äußert sich Desmond Tutu. Er hat als Vorsitzender der Wahrheits- und Versöhnungskommission in Südafrika eines gelernt: „Zu vergeben ist tatsächlich die beste Form des Eigennutzes“ (in einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung 2004 mit dem Dalai Lama in Vancouver, zit. Die Weisheit des Verzeihens S. 72).

Die Goldene Regel lädt ein zum gegenseitigen Verzeihen. Das tut beiden Seiten gut, denn wer verzeiht, entlastet nicht nur den Anderen, sondern auch sich selbst. Doch wer als Opfer in der Haltung der Anklage erstarrt und den Tätern immer nur die Schuld gibt, der gibt ihnen auch die Macht über sich, über seine Vergangenheit und seine Zukunft.

Die Goldene Regel in schwierigen Zeiten

Als konkretes Beispiel dafür sei die dramatische Geschichte von Immaculée Ilibagiza erzählt. Sie war eine 22jährige Frau vom Stamm der Tutsi, als 1994 in Ruanda, dem am stärksten katholisierten Land Afrikas, ein unvorstellbarer Genozid begann.

Im Laufe von 100 Tagen wurden fast eine Million Tutsi ermordet von ihren Hutu-Brüdern, mit denen sie die Kultur, die Sprache, die Geschichte und sogar die christliche Konfession teilten. Die meisten Mörder waren keine Fremden, sondern die Nachbarn, Freunde, Schulkameraden oder Arbeitskollegen der Tutsi. Auch moderate Hutu wurden massakriert, die ihre Tutsi-Freunde zu schützen versuchten.

Immaculée Ilibagiza überlebte diese drei Monate im Haus eines Hutu-Pastors, der sie versteckte. Sie war mit anderen Frauen in einem winzigen Badezimmer eingepfercht. Sie verlor ihre gesamte Familie, außer einem Bruder. Sie war in einem strenggläubigen katholischen Elternhaus aufgewachsen.

Ihre angesehenen Eltern waren Lehrer, über deren Moral die Tochter sagt: „Ihre Richtschnur war die Goldene Regel, dass man andere Leute so behandeln soll, wie man selbst behandelt werden möchte, und sie hielten uns dazu an, unseren Nachbarn mit Freundlichkeit und Respekt zu begegnen“ (Left to tell (2006), dt. Aschenblüte. Ich wurde gerettet, damit ich erzählen kann, Berlin 2008, S. 22).

Ihr Gottesglaube bewahrte Ilibagiza davor, in den Monaten der Massaker in ihrem Versteck wahnsinnig zu werden. Die Killertrupps waren täglich in Hörweite, so erfuhr sie von der Massakrierung ihrer Familie. Ilibagizas Erfahrungsbericht ist zutiefst aufwühlend. Denn sie beschreibt auch, wie sie die Goldene Regel, welche die Eltern ihr vorgelebt hatten, als Regel des Verzeihens umzusetzen lernte.

Immacule Illibagiza

Immacule Illibagiza aus Ruanda stützte sich auf die Goldene Regel

Den Anstoß dazu gab ihr die zitierte Vaterunser-Bitte sowie die Bitte des sterbenden Jesus am Kreuz (Lukas 23,34): „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Es ist kaum zu fassen, zu welcher inneren Haltung Ilibagiza schließlich gegenüber den Mördern ihrer Familie fand:

„Die Killer waren wie Kinder (…), sie verletzten Gott – und sie begriffen nicht, wie sehr sie sich damit selbst schadeten. (…) Trotz der Gräueltaten, die sie verübten, waren sie Kinder Gottes, und einem Kind konnte ich vergeben, auch wenn es nicht leicht sein würde – (…). Ich wusste, dass ich Gott nicht bitten konnte, mich zu lieben, wenn ich nicht bereit war, seine Kinder zu lieben. Und so betete ich nun für die Killer, dass ihnen ihre Sünden vergeben werden mögen“ (Left to tell (2006), dt. Aschenblüte. Ich wurde gerettet, damit ich erzählen kann, Berlin 2008, S. 130).

Tatsächlich besuchte Ilibagiza später einen der Mörder ihrer Familie im Gefängnis ihrer Heimatstadt und vergab ihm. Der neue Tutsi-Präfekt konnte das nicht fassen und fragte sie, wie sie so etwas nur tun könne. Ilibagiza antwortete ihm: „Etwas anderes als Vergebung kann ich nicht mehr geben.“ (Left to tell (2006), dt. Aschenblüte. Ich wurde gerettet, damit ich erzählen kann, Berlin 2008, S. S. 271).

Durch die Praxis der Goldenen Regel als einer Maxime des Verzeihens ist Immaculée Ilibagiza zu einer Multiplikatorin der Versöhnung geworden. Heute arbeitet sie bei den Vereinten Nationen in New York und setzt sich mit ihrer Stiftung für Waisenkinder aus Kriegsgebieten in Afrika ein. Sie ist überzeugt davon: „Jeder Mensch auf der Welt kann lernen, denen zu vergeben, die ihm Leid zugefügt haben, wie groß oder wie klein dieses Leid auch sein mag.“

Eckpfeiler eines Menschheitsethos

Es ist keine Überraschung, dass die Goldene Regel auch in der „Erklärung zum Weltethos“ zitiert wird, die 1993 vom Weltparlament der Religionen in Chicago verabschiedet und zuerst vom Dalai Lama und von Hans Küng unterzeichnet wurde.

Dieses zweite Religionenparlament, an dem etwa 6500 Menschen aus rund 250 verschiedenen Religionen, Konfessionen und interreligiösen Gruppen teilnahmen, tagte genau 100 Jahre nach dem ersten Parlament. In der Chicago-Erklärung tritt die Goldene Regel als zweites Prinzip ergänzend neben das Prinzip der Menschenwürde und der Menschenrechte im Sinne der Menschenrechtserklärung der UNO 1948.

Die Goldene Regel wird zunächst als Verbot und dann als Gebot zitiert. Daraufhin empfiehlt die Chicago-Erklärung:

„Dies sollte die unverrückbare, unbedingte Norm für alle Lebensbereiche sein, für Familie und Gemeinschaften, für Rassen, Nationen und Religionen. (…) Selbstbestimmung undSelbstverwirklichung sind durchaus legitim– solange sie nicht von der Selbstverantwortung und Weltverantwortung des Menschen, von der Verantwortung für dieMitmenschen und den Planeten Erde losgelöst sind“ (Dokumentation zum Weltethos, hg. von H. Küng, München/Zürich 2002, S. 25).

Das Jahr 2001 hatten die Vereinten Nationen als Maßnahme gegen das Herbeireden eines Kampfes der Kulturen zum „Internationalen Jahr des Dialogs der Kulturen“ ausgerufen. UNO-Generalsekretär Kofi Annan hatte für dieses Jahr eine 20köpfige Expertengruppe aus aller Welt einberufen, die ihm Vorschläge machen sollte für ein neues UNO-Paradigma der internationalen Beziehungen.

Die Gruppe übergab im November ein Manifest mit dem Titel „Crossing the Divide. Dialogue among Civilizations“ an Kofi Annan. Zur Frage nach einem Menschheitsethos sagt das Manifest:

„es ist eine Tatsache, dass gerade angesichts der Not sich der Kern eines globalen Ethos aufs Großartigste entfaltet. Und dieser Kern ist menschliche Solidarität, die ethisch durch die Goldene Regel in ihren zwei unterschiedlichen Facetten auf den Begriff gebracht wird: Anderen nicht anzutun, was uns nicht angetan werden soll, und so für andere zu sorgen, wie andere für uns sorgen sollen“ (Brücken in die Zukunft. Ein Manifest für den Dialog der Kulturen, Frankfurt/M. 2001, S. 187).

Dr. Martin Bauschke arbeitet im Büro Berlin der Stiftung Weltethos. Autor des Buches: Die Goldene Regel: Staunen – Verstehen – Handeln, Berlin 2010

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