Ein neues Buch rückt europäisches Selbstverständnis zurecht
Die Europäer reklamieren gern die Menschenrechte für sich. Doch die Ideen dafür finden sich schon in früher Geschichte und in vielen Kulturen. Hans Joas fordert in seinem Buch eine kritische Selbstreflexion und verweist auch auf Sklavenhandel und Folter.
Das Buch des katholischen Sozialphilosophen Hans Joas kommt unscheinbar daher, die Inhalte aber sind hoch explosiv. Der Autor benötigt nur 100 Seiten, um den großen europäischen Traum platzen zu lassen, wonach die Menschenrechte eine Erfindung des Westens seien. Obendrein erteilt er noch eine Geschichtsstunde über europäischen Kolonialismus und Imperialismus.
Das Buch knüpft an sein früheres Werk Die Sakralität der Person (Suhrkamp 2011) an. Darin entwickelt Joas die Idee, dass unser Verständnis der Menschenrechte aus der „Sakralisierung der Person“ stammt, also aus der Wertschätzung des Individuums. Diese habe sich in mehreren Kulturräumen unabhängig voneinander herausgebildet. Schon in der ‚Achsenzeit’ (800 bis 200 v. Chr.), wie der Philosoph Karl Jaspers sie nennt, gab es diese Ideen – und zwar nicht nur im Abendland, sondern auch in China und in Indien. Nehmen wir nur Konfuzius (551–479 v.Chr.) und Aśoka (304–232 v.Chr.) als Beispiel.
Für die Menschenrechte kämpfen
Im Hauptteil seines Buches macht Joas weitere europäische Selbsttäuschungen zunichte, indem er auf die Geschichte der Folter und der Sklaverei hinweist – Praktiken, die über lange Zeit sogar religiös und philosophisch gerechtfertigt wurden. So erlebte der Sklavenhandel zur Zeit der Aufklärung einen Aufschwung. „Keine der hochgeschätzten kulturellen Quellen der angeblichen europäischen Werte bot die Grundlage für einen konsequenten Widerstand gegen Sklaverei oder Versklavung“, so der Autor.
Was die Folter angeht, so haben die Europäer sie als legitimen Bestandteil der Strafjustiz zwar im 18. Jahrhundert abgeschafft, doch das habe nicht für die Kolonien gegolten: dort ließ man weiter foltern – sogar bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, etwa in Algerien durch unter französischer Herrschaft.
Dem mutigen Autor geht es aber nicht primär um das Zurechtrücken des europäischen Geschichtsbildes, sondern um die Gegenwart. Eine kritische Selbstreflexion wird gefordert, denn „Guantanamo und Abu Ghraib sind zu Symbolen dafür geworden, wie rasch unter dem Druck des Wertes ‚nationale Sicherheit‘ der Wert der Menschenwürde zurückgedrängt werden kann […] in der Bekämpfung des islamistischen Terrorismus scheint es zu Geheimgefängnissen mit Folterpraktiken auf europäischem Boden gekommen zu sein. Auch in der Rede von den ‚europäischen Werten‘ höre ich häufig weniger die Herausforderung zur Selbstkritik und mehr den Tonfall sicheren Besitzes.“
So ist die Schrift von Joas vor allem eines: eine Mahnung, dass die Menschenrechte kein Besitz sind, über den man verfügt, sondern eine Idee, ein Streben, das mit Leben gefüllt werden will und für das man sich immer wieder aufs Neue einsetzen muss.
Birgit Stratmann
Hans Joas: Sind die Menschenrechte westlich?
Kösel-Verlag 2015. 96 Seiten, 10 Euro