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Die Nacht hat auch die Sterne

Foto: privat
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Philosophische Kolumne: Das Schöne entdecken

Die letzten Wochen und Monate waren ein Ausnahmezustand und vielleicht ist die Gegenwart noch immer eine Ausnahme von der Regel, als Beginn von etwas, das sich den Namen Normalität noch nicht verdienen konnte. Ein Leben auf schwankenden Eisschollen, der Soziologe Hartmut Rosa würde sagen auf „rutschenden Abhängen“, aber vielleicht auch – zumindest für Momente –  ein Tanz auf den Wellen.

Neben all dem, was in dieser Zeit nicht mehr möglich war und noch immer Beschränkungen bedeutet und zu Sorgen Anlass gab, gibt es aber auch Neues und Abenteuerliches, was zumindest in meinem Leben dafür sorgt, dass sich keine Normalität einstellen will.

Wir haben seit sechs Wochen einen Hund, einen sehr lebendigen wunderbaren Welpen, dessen Wesen beständig Rätsel aufgibt, zu Unterbrechungen des eigenen Tuns aufruft und dazu führt, dass wir allein und als Familie ein neues Universum der Ratschläge und Überzeugungen erleben, mitgeliefert selbstverständlich die menschlichen Vertreter all dieser Erfahrungen und Wissensvorräte.

Dazu kommen interessante Erlebnisse in Wald und Feld zu Uhrzeiten, an denen ich mir noch vor Monaten nicht wirklich hätte vorstellen können, mit Kapuzenpulli den nächtlichen Regentropfen Widerstand zu leisten oder aber den ersten morgendlichen Sonnenstrahlen entgegen zu blinzeln. Ein Erleben von Polarität, am eigenen Leib und doch nicht aus sich selbst heraus, sondern durch das und den Anderen – verkörpert durch ein 15 Wochen altes Energiebündel.

Und wie es mit dem Erleben des „Anderen“ oft so ist, entsteht auch hier mit Emmanuel Levinás immer wieder die „Figur des Dritten“, die sich im Miteinander zweier Anderer auch als Anspruch an das Eigene offenbart, oder ein sich öffnender Zwischenraum, der etwas entstehen lässt, was unerwartet über den einen und den anderen hinausreicht.

Dafür braucht es Begegnungen, in denen sich etwas ereignen kann, die nicht immer planbar oder herstellbar sind, aber gerade dadurch das Bezugsgewebe menschlicher Möglichkeiten zum Ausdruck bringen – so, wie Hannah Arendt die Bezogenheit menschlichen Handelns als besondere Kostbarkeit beschreibt.

Heute Morgen um halb sieben begegnete mir eine alte Dame auf unserem Weg zurück vom Wald, gemeinsam mit ihrem recht betagten Hund und war offensichtlich auch zu dieser frühen Zeit des Tages durchaus zum Plaudern aufgelegt. Ich weniger. Aber es schien wichtig zu sein und so blieb ich stehen und hörte zu.

Das Erleben von Corona und wie schwer es sei, mit dieser Unsicherheit zu leben, immer wieder all diese Nachrichten, von denen man ja nicht wirklich wisse, wieviel Angst man haben müsse – aber hysterisch dürfe man ganz sicher nicht werden. Trotzdem, es sei nicht so leicht, sich auf die guten Dinge und das Schöne einzulassen und sie müsste immer mal wieder an ein Gedicht von Ringelnatz denken, in dem es heißt, dass auch der schönste Sommertag eben seine Mücken habe. Aber was soll man machen?

Ja, was soll man machen, vor dem ersten Kaffee hatte ich darauf noch weniger Antworten als sonst, aber mir fiel immerhin ein, dass es ja nicht immer eine Lösung sein muss und ein Gedicht sich vielleicht am besten mit einem Gedicht beantworten lässt. Um die Dame also nicht mit dem Gefühl einer bevorstehenden Mückenplage in den Sommertag zu entlassen, schlug ich ihr einen Vers von Mascha Kaléko vor, der mir schon durch so manchen dunklen Moment geholfen hat:

„Die Nacht, in der das Fürchten wohnt, hat auch die Sterne und den Mond“, auch daran sei doch viel Wahres, oder? Ein kleines Leuchten zog über das Gesicht der alten Dame, das sogar bis zur anderen Straßenseite reichte, sie legte ihre Hand aufs Herz und sagte ganz überrascht: „Ach, das hat jetzt richtig gut getan.“ 

Nach einem kleinen Zögern murmelte sie noch eher zu sich selbst: „Mal wieder so was ganz Positives“. Nahm ihren Hund und ging ihrer Wege. Ich blieb noch einen Moment stehen und schaute den beiden nach – und freute mich einmal mehr auf meinen ersten Kaffee, auch wenn Mond und Sterne schon langsam der Morgensonne Platz gemacht hatten.

Ina Schmidt, 1. September 2020

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