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“Die Natur macht den Wald, nicht wir”

Matthew Murphy/ Unsplash
Matthew Murphy/ Unsplash

Interview mit Peter Wohlleben

Die Erderwärmung setzt den Wäldern zu. Trotzdem haben natürliche Ökosysteme erstaunliche Fähigkeiten der Selbstregulation. Waldexperte Peter Wohlleben sagt: Je weniger wir eingreifen und je mehr wir die Natur machen lassen, desto gesünder ist der Wald. Ein Interview über das Lernpotenzial von Bäumen, ihr ausgeklügeltes Sozialverhalten und die Notwendigkeit umzudenken.

Das Interview führte Geseko von Lüpke
Frage: Wälder in Zeiten von Klimawandel: Wie müssen wir uns die Zukunft vorstellen, wenn in den nächsten Jahrzehnten die Bäume extrem leiden?

Wohlleben: Plantagen mit Fichten und Kiefern werden verschwinden. Ob in Franken die Kiefern, im Sauerland die Fichten: Wir haben in den letzten Jahren schon mindestens fünf Prozent der Waldfläche verloren. Diese Bäume können sich nicht weiter anpassen, weil sie eh schon viel zu warm und trocken stehen. Sie kommen ja eigentlich aus Skandinavien, Sibirien usw.

Dem “echten” Wald geht es trotz der Trockenheit in den Jahren 2018 bis 2020 erstaunlich gut. Unsere heimischen Ökosysteme halten die derzeitigen Veränderungen noch gut aus. Sie können sich selbst herunterkühlen, sie können sogar aktiv Regenwolken erzeugen und kleine lokale Tiefdruckgebiete bilden. Das ist wirklich unglaublich, was Bäume alles draufhaben!

Sind das ganz neue Erkenntnisse?

Wohlleben: Die Klimawirkung von intakten Wäldern hat schon Alexander von Humboldt vor 200 Jahren beschrieben. Dieses Wissen wird durch die moderne Satelliten-Forschung gestützt. Unsere Kunst-Forste, unsere Wirtschaftswälder haben grob geschätzt nur ein Viertel der Biomasse von natürlichen Wäldern. Und alles, was an Biomasse fehlt, behindert die Selbstorganisation. Je mehr wir an den Wäldern herumbasteln, desto schneller geht es mit ihnen bergab.

Lernt der Wald im Gegensatz zu uns Menschen dazu?

Wohlleben: Absolut. Dazu gibt es auch gute Forschungen aus Deutschland, z. B. zu den Ivenacker Eichen. Sie haben 2018/19 sehr schlecht ausgesehen. 2020, im dritten Trockenjahr, ging es ihnen dann auf einmal besser. Sie haben andere Blattformen gebildet.

Stieleichen, die eher feucht-kühles Klima brauchen, haben auf einmal Traubeneichen-Blätter gebildet – das sind Eichen, die eher auf Trockenhängen wachsen. Sie haben sogar Blätter der Pyrenäen-Eiche gebildet, eigentlich eine ganz andere Art. Offensichtlich haben sie sich daran erinnert, wie sie in ihrer spanischen Heimat während der Eiszeit überwintert haben.

Und es gibt auch ein ganz aktuelles Untersuchungsergebnis zur Buche: Die Buche macht im Sommer weniger Photosynthese und dafür nach hinten raus im Herbst deutlich mehr. Sie stellt also ihre Verhaltensweise um in Bezug auf ihren Stoffwechsel. So wächst sie im Sommer weniger und holt im Herbst auf. Das scheint ein Muster zu sein, was sich wohl auch epigenetisch nachweisen lässt.

Die Natur macht den Wald. Wir können schauen, wie viel wir ihm abverlangen können.

Das heißt, wir sollten den Prozess sich selbst überlassen? Oder könnten wir den Wald nicht auch so „gestalten“, dass er die Klimakrise übersteht?

Wohlleben: Den Wald können wir gar nicht „gestalten“. Auf den Jacken mancher Forstverwaltungen steht ja sogar: „Wir machen Wald!“ Da denke ich immer, da fehlt drunter: „Ich bin Gott!“

In 30 Gramm Buchenwald-Erde, das haben norwegische Forschende untersucht, finden sich rund 40.000 verschiedene Bakterienarten. Kein Mensch weiß, was sie da genau machen. Wir kennen zum Beispiel auch rund 90 Prozent aller Pilzarten noch gar nicht. Das sind aber ganz wichtige Komponenten, die mit den Bäumen zusammenleben.

Das heißt, die „manipulative“ Forstwissenschaft ist gescheitert?

Wohlleben: Seit 200 Jahren sterben Nadelholz-Plantagen durch Borkenkäfer, Stürme, Dürre – und trotzdem machen wir immer weiter. Das geht einfach nicht mehr. Wenn wir das einsehen, wird es leichter werden.

Noch kommt der Wald überall von selbst zurück. Und übrigens heißt es auch nicht, dass wir, wenn wir die Natur machen lassen, den Wald nicht mehr nutzen dürfen. Da werde ich häufig falsch verstanden. Nein, was ich sage, ist:

Den Wald macht die Natur selbst, und wir können dann schauen, was wir ihr abverlangen können, ohne das System zu sehr zu stören. Also, ich bin absolut für Holznutzung. Die sollte es meiner Meinung nach auch in Zukunft geben. Aber wieviel wir den Wald zur Ader lassen, das müssen wir logischerweise ständig neu verhandeln, weil die Temperaturen ja leider weiter steigen werden.

Man legt sich vielleicht für eine Stunde unter einen Baum, guckt einfach in die Blätter und lässt sie auf sich wirken.

Sie sprechen von einer Sozialstruktur der Bäume. Wie sorgen sich denn Bäume umeinander?

Wohlleben: Bäume kooperieren. Je mehr Bäume und je dichter sie zusammenstehen, desto gesünder wächst ein Wald, desto resilienter ist er – also gemeint ist ein natürlicher Wald, keine Plantage, die aufgeforstet wurde.

In einem natürlichen Wald mit viel Biomasse findet eine große gegenseitige Unterstützung statt. Da werden selbst alte Baumstümpfe über Jahrhunderte miternährt. Die Baumjugend wird über Wurzelverwachsungen mit Zuckerlösung, man könnte fast sagen, „gestillt“.

Dieser Austausch macht Sinn, denn das Ökosystem muss ja groß sein. Wenn ein Wald selbst Wolken erzeugen kann, dann braucht er schon ein paar Quadratkilometer. Das schafft kein einzelner Baum allein.

Und deswegen sind Bäume eben keine Konkurrenten, wie das so oft kolportiert wird. In der Forstwirtschaft wird z. B. oft gesagt: „Bäume kämpfen gegeneinander um Licht, Wasser und Platz. Da machen wir mal ein bisschen Raum, damit sie sich besser entwickeln können!“ Doch die Antwort der Bäume ist: „Lasst das! Das ist meine Familie. Die brauche ich!“

Beim Waldbaden lässt man sich auf den Wald ein. Foto: Jan Huber/ Unsplash

Wie definieren Sie eigentlich den Modebegriff Waldbaden? Inwieweit geht es dabei um mehr als nur den Aufenthalt im nächsten Wald?

Wohlleben: Den Begriff Waldbaden fand ich am Anfang sehr merkwürdig und habe gedacht: Man kann doch auch einfach so in den Wald gehen, ohne Anleitung. Mittlerweile bieten wir aber so etwas wie Waldbaden in unserer Wald-Akademie an, denn: Wir Menschen wollen oft nur Kilometer machen. Was zählt, ist die Leistung. Und wir haben meist auch einen Plan, wann wir wieder am Parkplatz zurück sein wollen.

Dabei nehmen wir nicht wahr, wie es draußen riecht und was wir hören. Aber Waldbaden heißt ja, man lässt sich wirklich auf den Wald ein. Man legt sich vielleicht sogar mal für eine ganze Stunde unter einen Baum, guckt einfach in die Blätter und lässt sie auf sich wirken.

Dazu kommt, dass man, wenn man ganz tief atmet, die vielen wertvollen Terpene einatmet, die die Bäume ausströmen. Das sind Duftstoffe, über die Bäume miteinander kommunizieren. Und man weiß ja mittlerweile, dass diese Stoffe auch positiv auf den Blutdruck wirken. Oder auf Killerzellen, die Krebs bekämpfen. Und auch die optischen Eindrücke im Wald sind gesundheitsfördernd. Selbst wenn Sie von einem Krankenhaus-Zimmer auf einen Baum schauen, brauchen Sie weniger Schmerzmittel und werden früher wieder gesund.

Würden wir unseren tierischen Konsum etwas zurückfahren, könnten wir Fläche für große Nationalparks freimachen.

Sie haben u. a. ein Buch über das „Netzwerk der Natur“ veröffentlicht. Was sind denn die wichtigsten Aufhängungspunkte in diesem Netzwerk?

Wohlleben: Es gibt ein großes Netzwerk, das ist die Erde selbst. Und dazwischen sind ganz viele kleinere Netzwerke gespannt. Aber wir müssen uns das Ganze in Hunderten von Etagen vorstellen, die auch untereinander wieder verknüpft sind. Das heißt, es ist eigentlich schwer zu durchschauen, wer mit wem etwas zu tun hat.

Was sind denn Ihre zentralen Forderungen an die Politik und an die Forstwirtschaft?

Wohlleben: Wir brauchen mehr große zusammenhängende Schutzgebiete. Wir brauchen eine Art Rettungsinsel für solche Netzwerke, um sie aufrechtzuerhalten, um die Arten zu bewahren, damit sie sich später wieder ausbreiten können, wenn wir der Natur wieder mehr Raum geben.

In Deutschland wäre das eigentlich sehr gut möglich. Wir haben fast so viel Tierfutterfläche wie Waldfläche. Und wenn wir unseren tierischen Konsum etwas zurückfahren würden, könnten wir Zehntausende Quadratkilometer für große Nationalparks freimachen – für wirkliche Schutzflächen, wo der Wald sich selbst wieder zurückentwickeln dürfte.

Das ist übrigens genau das, was wir aktuell von den Ländern des globalen Südens fordern. Warum nicht auch bei uns? Wir haben in Deutschland gerade einmal 0,6 Prozent geschützte Wildnis-Gebiete, wo die Natur wirklich allein machen darf.

Haben Sie auch aus diesem Grund das „Urwald-Projekt“ ins Leben gerufen?

Wohlleben: Wir haben so etwas wie ein „Urwald-Projekt“ initiiert, wo wir im kommunalen Waldbereich alte Laubwälder für viele Jahrzehnte pachten. Die Gemeinde bekommt eine Kompensation für ihre Holzeinnahmen, und der Wald darf dann selbst machen.

In einem stillgelegten Wald singen die Vögel weiter, man darf auch hindurchwandern, kann sich am Wald erfreuen. Es läuft keine Motorsäge. Und der Wald produziert Wolken, er produziert Grundwasser, und er produziert vor allem Kühle. So ein intakter alter Laubwald kann sich im Vergleich zu einer Stadt wie München im Sommer im Schnitt um 15 Grad Celsius herunterkühlen.

Welche Probleme haben wir denn im Klimawandel? Hitze und Trockenheit. Und beides mag der Wald auch nicht. Wenn wir ihm nicht ständig ein Bein mit der Motorsäge stellen würden, würde er das schon regeln. Das ist einfach eine andere Art der Waldwirtschaft. Und die könnte man den Waldbesitzern auch entgelten.

Die Gesellschaft will das ja: weniger Holz, mehr Kühlung, mehr Wasser. Da muss man eben verhandeln, wieviel wir von allem gern hätten.

Die Wald-Bildung kommt heute noch aus der Forstwirtschaft.

Die von Ihnen gegründete Wald-Akademie ist eine zivilgesellschaftliche Bildungseinrichtung. Bräuchten wir nicht mehr von solchen Akademien, weil es Wissenschaft und öffentliche Bildungseinrichtungen offensichtlich nicht auf die Reihe kriegen, ein neues Narrativ vom Wald zu vermitteln?

Wohlleben: Dass die wirtschaftliche Zerstörung unserer Wälder hierzulande immer noch weitergeht, hängt schon auch mit der „Erzählung“ zusammen. Die Forstwirtschaft erzählt weiter krampfhaft, dass dem Wald die Holznutzung nützt. Man sagt: „Der braucht das Ausdünnen und den Maschineneinsatz, sonst stirbt er.“

Und dann denke ich immer: Hmm, also wenn ich mir das jetzt im Amazonas-Gebiet vorstelle – das wäre die Katastrophe im Quadrat! Hoffentlich wird das dort nicht gemacht. Aber in Deutschland soll es das eine Mittel sein, um den Wald zu retten? Das ist es natürlich nicht!

Aber noch gibt es diese Erzählung, obwohl der Wald zusehends ausblutet und die Leute das bei jedem Spaziergang auch sehen. Und da versuchen wir, ein bisschen aufzuklären. Denn aktuell kommt die Wald-Bildung noch aus der Forstwirtschaft. Das ist so ähnlich, als wenn Sie etwas über das Verhalten von Tieren bei der Firma Tönnies lernen wollen.

Deswegen haben wir uns entschlossen, selbst Waldführerinnen und Waldführer auszubilden, die dann freiberuflich in ihrer jeweiligen Heimatregion Führungen anbieten. Ich habe selbst mal erlebt, dass Naturführer, die von den Landesforstverwaltungen ausgebildet worden sind, erklären, warum Kahlschläge gut sind. Und da haben wir irgendwann gesagt: „Nein Freunde, das müssen wir selbst in die Hand nehmen!“

JCS

Peter Wohlleben ist Förster und Autor, der sich für eine ökologische und nachhaltige Waldwirtschaft einsetzt. Er wurde bekannt durch sein Buch “Das geheime Leben der Bäume” von 2015. Neu erschienen: Peter Wohlleben und Pierre L. Ibisch: “Waldwissen. Vom Wald her die Welt verstehen. Erstaunliche Erkenntnisse über den Wald, den Menschen und unsere Zukunft.” Ludwig Verlag, 2023.

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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