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Die psychotische Gesellschaft

Foto: Rahel Tauebert
Foto: Rahel Tauebert

Interview mit der Philosophin Ariadne von Schirach

Ihre Bücher kreisen um ethische Fragen und die Verteidigung der Menschlichkeit. Im Interview thematisiert Ariadne von Schirach, wie unsere Gesellschaft aus den Fugen geraten ist und was wir tun können. „Wir brauchen keine andere Welt, sondern ein anderes Bewusstsein.“

Frage: Wenn Sie zurückblicken: Was war der Auslöser für Ihr neues Buch?

Ariadne von Schirach: Vor mehr als 15 Jahren fing ich an, darüber nachzudenken, warum wir plötzlich alle „sexy“ sein sollen. In „Der Tanz um die Lust“ geht es deshalb um die Frage, was passiert, wenn wir unser Begehren zu Markte tragen. Ein paar Jahre später stellt sich „Du sollst nicht funktionieren“ die Frage, was es mit uns macht, wenn wir auch noch den ganzen Rest vermarkten. Das neue Buch beschreibt den Punkt, an dem wir vor lauter Ökonomisierung – verstanden als Leistungsdenken, Konkurrenz und Gewinnmaximierung – das Leben und uns selbst dermaßen aus den Augen verloren haben, dass wir uns nicht mehr in ihm und miteinander zurechtfinden.

Wie lautet die zentrale These Ihres Buches?

Wohin man auch blickt, scheint die Welt aus den Fugen geraten. Populismus, Klimawandel und globale Migrationsbewegungen treffen auf den Verlust sozialer Verbindlichkeiten und ein immer stärkeres Auseinanderdriften individueller Lebenswelten. Unsere Gesellschaft ist erodiert durch die Allgegenwart des oberflächlichen und einseitigen Marktdenkens, das nur Verwertung, aber keine Werte kennt, wobei sich dieser Prozess durch Digitalisierung und Globalisierung letztlich nur beschleunigt hat.

Dabei ist uns irgendwann der Sinn des Lebens und Zusammenlebens abhanden gekommen und damit auch die Fähigkeit, uns gemeinsam vernünftig in der Welt einzurichten. Gerade verstärken sich soziale Gegensätze und Widersprüche aller Art: Naturschutz und Naturzerstörung, die Allgegenwart sozialer Medien bei gleichzeitig zunehmender Vereinsamung, drängende politische Probleme und totale Stagnation. Die Diagnose eines psychotischen Zustandes erlaubt es, diese auf den ersten Blick so unterschiedlich scheinenden Phänomene in einer zentralen Metapher zu fassen.

Im Kern jeder Psychose steckt ein Realitätsverlust

Was genau ist psychotisch an diesem Zustand der Gesellschaft?

Im Kern jeder Psychose steckt ein fundamentaler Realitätsverlust. Die damit einhergehende Selbst- und Daseinsentfremdung zeigt sich auf neuronaler Ebene als Dopaminflut, die alle Unterschiede zwischen Ich und Welt verschwinden lässt. Auf kollektiver Ebene entspricht diese Dopaminflut dem Zusammenhang von ökonomischem Steigerungszwang und konstanter Beschleunigung aller Lebensbereiche bei stetig anwachsender Reizüberflutung.

Die damit einhergehende Unfähigkeit, Prioritäten zu setzen und Sachverhalte angemessen zu beurteilen, macht nicht nur dem Einzelnen zu schaffen, sondern zeigt sich auch im Kollektiven. Denken wir an die News, die uns überall entgegenfluten, dieser gestaltlose Brei aus Ertrunkenen im Mittelmeer, Amokläufern, Promihochzeiten, brennenden Wäldern und süßen Katzenvideos.

Doch zugleich leben wir ein einem „postfaktischen“ Zeitalter, bestimmt von Fake-News und medialer Manipulation. Als Reaktion auf diese fundamentalen Zweifel an einer gemeinsamen Wirklichkeit wuchern Privatwelten, das reicht von konsumgestützten Existenzen in Filterbubbles zu weit bedenklicheren nationalistischen Schwärmereien.

Wir wissen gerade schlicht nicht mehr, wer wir sind und woran wir uns orientieren können. Diese kollektive Identitätskrise und der damit verbundene innere Heimatverlust erzeugt Angst angesichts der Auflösung eines verbindlichen sozialen Zusammenhalts und Ohnmacht angesichts der Unfähigkeit, selbst etwas daran zu ändern.

„Wir brauchen keine andere Welt, sondern ein anderes Bewusstsein dessen, was ist.“

Sie bleiben nicht bei einer Analyse der Gegenwart stehen, sondern sprechen davon „die Welt neu zu erzählen“. Was bedeutet das?

Eine Psychose beschreibt einen Übergangszustand. Die beängstigende Auflösung alter Gewissheiten kann zu einem umfassenderen und angemesseneren Verständnis unseres Lebens und Zusammenlebens führen. Das betrifft nicht nur unser Verhältnis zu unseren Mitmenschen, sondern auch die Frage, wie wir gut mit der Natur, den Tieren und unseren eigenen Schöpfungen wie unseren Städten, unseren Dingen und Produkten, oder unserem Wirtschaftssystem zusammenleben.

Doch die kollektive Identitätskrise, in der wir gerade stecken, ist letztlich Kopfsache, eine Pathologie des Geistes – die natürlich trotzdem reale Folgen hat. Denn nur weil unsere einseitige und materialistische Weltanschauung den Kontakt zur Realität des Lebens verloren hat, heißt das keinesfalls, dass es diese Realität nicht mehr gibt. Alles ist noch da – das Leben, die Natur, wir selber.

Heilung ist das Finden eines neuen Sinns durch Integration des Verdrängten. Wir brauchen keine andere Welt, sondern ein anderes Bewusstsein dessen, was ist. Dafür müssen wir uns erden, also zum Leben, so wie es ist, zurückkehren.

In meinem Buch beschreibe ich, wie wir uns dabei das, was uns fremd geworden ist, ebenso vergnügt wie unerbittlich wieder aneignen können. Dazu gehört beispielsweise uns bewusst und endlich folgenreich mit den Spuren, die wir hinterlassen haben, auseinandersetzen – von unserem ganzen Müll hin zu ausgehöhlten Institutionen wie Krankenhäusern oder Pflegeheimen, die nicht mehr dem Menschen dienen, sondern nur noch dem Profit.

Diese Rückkehr zum Leben beschreiben Sie als „poetische Praxis“ – was meinen Sie damit?

In der allgemeinen Auflösung, die zugleich eine Auflösung des Allgemeinen ist, steckt zugleich die Einladung, sich von allem selbst ein Bild zu machen. Also ganz konkret zu sehen, wie dort, wo man selbst lebt, gearbeitet, geteilt und gewirtschaftet wird.

Diese Rückkehr zur Realität des Lebens ist immer auch ein poetischer Akt, weil so ein frischer Blick, der nicht mehr alles nur nach seiner Verwertbarkeit hin überprüft, sondern in einen Dialog mit der Natur oder den konkreten Lebensbedingungen an einem bestimmten Ort tritt, dem, was er dort findet, auch einen neuen Sinn verleiht.

Ein Mensch zu sein, heißt, sich zu fragen, wer man ist und wie man leben soll.

Jeder von uns ist auf eine ganz tiefe Weise wirklich ein Künstler. Das poetische Denken erinnert uns daran, wie viel Gestaltungsfreiheit im eigenen Umgang mit dem Leben liegt. Eigennutz, Ignoranz und Gier haben uns in diese Lage gebracht, aber bringen uns nun keinen Schritt mehr weiter.

Wir müssen aufräumen, ordnen, Schulden zahlen. Und durch diese bewusste Wiederaneignung von allem, was uns angeht und wofür wir verantwortlich sind, das Geheimnis des Lebens wieder in eine Heimat verwandeln.

Was bedeutet der Begriff „Verantwortung“ für Sie?

In dem Wort stecken für mich zwei zentrale Begriffe: „Verortung“ und „Antwort“. Wir müssen uns im Leben verorten und zugleich auf unser eigenes Leben antworten. Dieses Leben zeigt sich uns als geheimnisvolle Ganzheit, deren Dauer der Wandel ist, ein beständiges Schwingen zwischen Polaritäten.

Verortung ist die Bestimmung der eigenen Position in Bezug auf diese Ganzheit – wo stehe ich, von wo blicke ich, wie gehe ich bewusst mit meiner eigenen Lebendigkeit um? Ein Mensch zu sein, heißt, sich zu fragen, wer man ist und wie man leben soll, wobei jeder Einzelne die lebendige Frage, die er selbst ist, durch den Vollzug seines eigenen Lebens beantwortet – ob er das wahrhaben will oder nicht.

Doch nur wenn ich weiß, wer ich selbst bin, muss ich mich nicht durch Abgrenzen vom Anderen definieren. Diese Art und Weise, sich selbst Sinn zu geben, ist damit auf tiefster Ebene die beste Prävention gegen Populismus und Identitätspolitik.

Denn ebenso wichtig wie das eigene Bemühen im Kleinen und Großen – vom Mehrwegbecher zu nachhaltigem Konsum, von Nachbarschaftshilfe zu politischem Engagement – ist, sich daran zu erinnern, dass wir Menschen alle Brüder und Schwestern sind, die das Leben einander verdanken und einander schulden.

Jeder von uns ist kostbar, einmalig, unersetzlich. Und weil wir tatsächlich alle durch eben dieses Leben miteinander verbunden sind, hat das, was jeder Einzelne von uns tut, auch Auswirkungen auf das Ganze.

„Mich begleitet das Wimmern unsers gemeinsamen Hauses schon eine ganze Weile.“

Was treibt Sie persönlich an, sich als Philosophin gesellschaftlich einzumischen?

Ich denke gern. Manche sehen Geister, ich sehe Strukturen, und mich begleitet das Wimmern unsers gemeinsamen Hauses schon eine ganze Weile. Und mit ihm die Frage, wie sich Verdinglichung und Entfremdung bis hin zu offener Menschenverachtung in der Gegenwart zeigen und was man dagegen tun kann.

Welche Vorbilder inspirieren Sie?

Mütter. Und Väter. Leute, die handeln, anstatt zu quatschen. Lou Andreas-Salomé. Simone de Beauvoir. Hannah Arendt. Byung-Chul Han, von dessen schonungslosen Analysen der Folgen des neoliberalen Ausverkaufs ich mich ebenso verstanden fühle wie von seinem Sinn für das Geheimnisvolle unseres Daseins.

Und Søren Kierkegaard, der anders als viele andere Philosophen immer leuchtender wird, je näher man ihm kommt und dessen Verteidigung einer universellen Menschlichkeit uns auch im 21. Jahrhundert daran erinnert, dass uns alle – egal, woher wir kommen, egal woran wir glauben – mehr verbindet als trennt.

 

Ariadne von Schirach unterrichtet Philosophie und chinesisches Denken an der Berliner Universität der Künste, der HFBK in Hamburg und der Donau-Universität Krems. Sie arbeitet als freie Journalistin und Kritikerin und ist als Autorin von Sachbuch-Bestsellern (siehe oben) bekannt. Autorin mehrerer Bücher, u.a. Die psychotische Gesellschaft. Wie wir Angst und Ohnmacht überwinden, Klett-Cotta Verlag, März 2019, 260 Seiten. Zuvor erschienen „Der Tanz um die Lust“ (2007) und „Du sollst nicht funktionieren“ (2014) eine Analyse der Gegenwart.

 

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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