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Die Souveränität des Guten

Iris Murdoch Society
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Philosophisches Basiswissen Iris Murdoch

Iris Murdoch (1919-1999), bekannt als Romanautorin, hat auch eine Moralphilosophie entwickelt. Diese gründet in der Tugend. Sie kritisiert eine Moral, die sich rein auf naturwissenschaftliche und rationale Methoden beschränkt. Die Moral solle sich an der Idee des Guten, an der selbstlosen Hinwendung zum anderen und der aufmerksamen Beobachtung der Wirklichkeit orientieren.

In Dublin geboren, verbrachte Murdoch den Großteil ihres Lebens in England. Nach intensiven Studien in Oxford, wo sie zeitweise Philosophie lehrte, wurde sie zu einer gefeierten Romanautorin, mit nicht weniger als 26 Titeln. Für ihren 1978 erschienenen Roman „Das Meer, das Meer“ erhielt sie den Booker Prize.

Während das Romanwerk auch den deutschsprachigen Raum eroberte, wurde ihre philosophische Arbeit hier bisher kaum wahrgenommen. Erst jetzt, mehr als 50 Jahre nach dem Erscheinen der englischen Ausgabe, liegen drei ihrer wichtigsten Essays in deutscher Sprache vor, von der Tübinger Philosophin Eva-Maria Düringer übersetzt und mit einem exzellenten Nachwort versehen.

„Die Souveränität des Guten“ lautet der Titel des Bandes, in dem Murdoch ihr Ethikverständnis entfaltet. Dies erfolgt primär in Form einer kritischen Auseinandersetzung mit den damals in England und Frankreich dominierenden philosophischen Trends.

Vorangestellt ist dem Buch ein Vorwort der Philosophin Mary Midgley, die zeitlebens eine enge Vertraute Murdochs war. Midgley stellt heraus, wie sehr das Moralverständnis der Freundinnen von dem abwich, was das Gros der Koryphäen im damaligen Oxford verkündete.

Vor allem die „abergläubische Überzeugung, dass es ein einzelnes, riesiges, unfehlbares System namens Naturwissenschaft gibt, das die menschliche Existenz in ihrer Gänze erklärt“, bereitete den Frauen Kopfzerbrechen. Sie machten es sich zur Aufgabe, ethisches Denken wieder mit dem empfindungsstarken inneren Selbst in Verbindung zu bringen.

Kritik an Freud und am Existenzialismus

So ist auch Murdochs philosophische Kritik primär gegen den logischen Positivismus gerichtet, der im akademischen Milieu Oxfords en vogue war. Hier maß man nur solchen Aussagen über den Menschen Bedeutung zu, die durch Beobachtungen verifizierbar waren, bzw. solchen, die sich aus streng rationalen Herleitungen ergaben.

Entsprechend verlieh man in fraglichen Situationen einzig denjenigen Aspekten moralisches Gewicht, die verallgemeinerbar und objektivierbar waren, während weite Teile des komplexen Innenlebens als unwesentliche Gefühlsäußerungen oder auch als metaphysische Spekulationen ohne Wirklichkeitsgehalt abgetan wurden.

Doch nicht nur gegen Tendenzen einer Überrationalisierung des Lebens erhebt Murdoch Einspruch. Ihre Skepsis richtet sich ebenso gegen die Psychoanalyse Freuds sowie gegen den Existenzialismus Sartres.

Freud liefere zwar, wie sie sagt, erstmals „ein realistisches und detailliertes Bild des sündigen Menschen“. Fraglich sei indes seine Annahme, dass ein Mensch befähigt ist, mittels Analyse dem eigenen Selbst gerecht zu werden. Dem stehen starke Kräfte entgegen, denn „wenn man das Selbst klar sieht, dann ist es ein entsprechend kleineres und weniger interessantes Objekt.“

Noch fragwürdiger ist für Murdoch der existenzialistische Ansatz. Hier liege der Irrtum in einer „Identifizierung der wahren Person mit dem leeren, wählenden Willen“, weshalb man zu einer bedenklichen Überschätzung der bewegenden Tathandlung gelange. Das Individuum, das ausgesetzt „auf einer einsamen Insel inmitten eines Meeres naturwissenschaftlicher Tatsachen“ lebe, könne gemäß dieser Lehre „nur durch einen wilden Sprung des Willens“ den Zwängen der Naturwissenschaft entkommen.

Dies zeige – so Murdoch — eine problematische Vorstellung von Freiheit, welche die menschliche Wirklichkeit von Grund auf verkenne. Ausgespart bleibt hier jene ehrliche und aufmerksame Betrachtung, in der wir bereit sind, uns als in die Welt verwobene und bedingte Wesen zu erfassen und anzunehmen.

Lassen wir aber die Kräfte im Dunkeln, die uns tatsächlich antreiben, so sind die Würfel bereits gefallen, wenn die Überlegung beginnt. Der kühne Sprung in die Freiheit ist dem Determinismus deshalb weitaus näher als gedacht.

Moral beruht auf Liebe

Angesichts dieser ‚angesagten‘ Lehren sucht Murdoch der Moralphilosophie ein neues Fundament zu geben, und zwar jenseits des naturwissenschaftlichen Credos, welches das Seelenleben auf Mechanismen empirischer Psychologie reduziert. Nachdrücklich betont sie, dass moralische Begriffe sich nicht innerhalb einer von Wissenschaft und Logik errichteten ‚harten‘ Welt bewegen, sondern gewissermaßen eine eigene Welt für andere Zwecke aufbauen.

Weil in moralischen Fragen unausweichlich die Relativität der menschlichen Verhältnisse zum Tragen kommt, ist das Ideal einer zeitlosen Vernunft hier wenig hilfreich. Lediglich dem Tatbestand, dass „wir weder Engel noch Tiere, sondern Menschen sind“, fällt absolute Gültigkeit zu. Folglich sind unsere moralischen Interaktionen per se niemals zu vollenden, bleiben stets von Unvollkommenheit geprägt.

Auch die philosophischen Bemühungen um eine exakt definierte Sprache bieten keinen Ausweg. Worte sind nicht zeitlos, denn Begriffe wandeln sich und erzeugen bei verschiedenen Zuhörern abweichende Wirkungen. Gründe werden nicht notwendigerweise qua Gründe öffentlich geteilt. Im Gegenteil, Murdoch ist überzeugt:

Moralphilosophie kann niemals vermeiden, Partei zu ergreifen und „vermeintlich neutrale Philosophen und Philosophinnen ergreifen lediglich heimlich Partei.“ Weil Menschen sich wechselseitig oftmals unverständlich, ja obskur erscheinen, ist Annäherung nur dann möglich, wenn sie sich einander oder gemeinsamen Gegenständen mit nachdrücklicher Aufmerksamkeit widmen.

Murdoch spricht von einem „Teil in uns, der sich aufmerksam der Realität zuwendet und sich zum Guten hingezogen fühlt.“ Liebe, die geduldiges Hinschauen praktiziert, dient als Übung der Gerechtigkeit. Stark inspiriert von der jüdischen Philosophin Simone Weil bestimmt Murdoch die moralische „Wirklichkeit als etwas, das sich dem geduldigen Blick der Liebe offenbart“, wobei sie überzeugt davon ist, dass diese Idee gerade für ‚gewöhnliche‘ Menschen sehr gut nachvollziehbar ist.

Moral braucht eine neue Art des Sehens und der Aufmerksamkeit

Konzentriertes Verharren bei einer Sache ist alles andere als einfach. Weil es enorme Anstrengungen fordert, neigen wir dazu, uns schnell zu vertrauten Perspektiven zurück zu flüchten, die unserem Selbst „Trost in Selbstmitleid, Verbitterung, Einbildung und Verzweiflung“ bieten. Solche Selbstkonstruktionen sind letztlich Orte der Illusion. Wollen wir hingegen die wirkliche Welt sehen, um adäquat handeln zu können, das Gute zu verwirklichen, verlangt uns dies eine Bewegung zum „Nichtselbst“ hin ab.

Moralische Freiheit liegt mithin nicht in der Verfolgung glasklar definierter Absichten, sondern sie vollzieht sich gebunden als eine aufmerksame — „souveräne“ — Hinwendung zu je einzigartigen Realitäten. Sie liegt in der Bereitschaft, umsichtig, ehrlich und geduldig wahrzunehmen, was tatsächlich der Fall ist — eine Art des Sehens, die unweigerlich Zurücksetzung des Selbst benötigt.

Auf diese Weise wird die besondere Eigenart anderer augenfällig. Je mehr man aber realisiert, dass andere Bedürfnisse und Wünsche haben, die ebenso fordernd sind wie die eigenen, desto schwerer fällt es, eine Person als Sache zu behandeln. Das ‚mächtige Energiesystem‘ unseres Willens, angetrieben durch egozentrische Ziele und Vorstellungen, flaut ab. An die Stelle von Blendung und Einbildung tritt ein „Realismus des Mitgefühls“.

Dieser Wandel erfolgt erst im Bewusstsein der Sterblichkeit. Das Gute, die Tugendhaftigkeit, entspringt dem Wissen um menschliche Gebrechlichkeit, die uns lehrt, dass wir die Welt niemals beherrschen können: „Güte ist verbunden mit der Akzeptanz wirklichen Todes, wirklichen Zufalls und wirklicher Vergänglichkeit, und nur vor dem Hintergrund solcher Akzeptanz, die psychologisch so schwierig ist, können wir Tugendhaftigkeit voll und ganz verstehen.“

„Nichts ist wert außer dem Bemühen, tugendhaft zu sein“

Damit wendet sich Murdoch ausdrücklich gegen einen Zeitgeist, der die Suche nach authentischer Identität zum obersten Richtmaß des Gelingens erhebt. Ihr geht es um ein Glück, das sich erst dann zeigt, wenn die forcierte Selbstsuche um höherer Einsichten willen zurückgestellt wird. Obgleich „das dicke, unerbittliche Ego“ ein Hemmnis des moralischen Lebens bleibt, gibt es Techniken, sich von selbstsüchtiger Energie zu reinigen und innerlich neu auszurichten.

In diesem Sinne sind Menschen ‚metaphysische Tiere‘. Dennoch hat das menschliche Leben nach Murdoch kein vorgegebenes Telos: Weder gibt es einen klaren göttlichen Auftrag, noch gilt es einer naturwissenschaftlichen oder geschichtlichen Wahrheit zu genügen. Das Gute bzw. Sinn liegt nicht außerhalb unserer Welt, sondern muss innerhalb der menschlichen Erfahrung gesucht werden.

Souveränität entfaltet sich als „eine kleinteilige und schrittweise Angelegenheit (…), die die ganze Zeit vonstattengeht“, sie ist „kein pompöses, ungehindertes Herumspringen in wichtigen Momenten.“ Moral liegt also nicht im grandiosen Habitus oder in außerordentlichen Taten, sondern im alltäglichen Bemühen um angemessene Handlungen.

Wichtig ist: Weil charakterliche Umformungen sich nur langsam vollziehen, überschätzen wir unsere Wirkmacht, wenn wir Gegebenes von jetzt auf gleich verändern wollen. Im Grunde gilt es zu verstehen, „dass nichts im Leben von Wert ist außer dem Bemühen, tugendhaft zu sein.“

Die Kunst als Gegengewicht zu einem übersteigerten Rationalismus

In all dem fällt der Kunst eine zentrale Rolle zu. Sie lehrt genaues Hinsehen und bietet zudem den „nüchternen Trost der Schönheit“. Für Murdoch ist sie „die bildendste aller menschlichen Aktivitäten und ein Ort, an dem die Natur der Moral gesehen wird.“

Güte und Schönheit sollten einander nicht gegenübergestellt werden, weil sie derselben Struktur angehören: „Tugendhaftigkeit ist im Kunstschaffenden und im guten Menschen grundsätzlich gleich, besteht sie doch in selbstloser, aufmerksamer Zuwendung zur Natur: etwas, das leicht zu benennen ist, aber sehr schwer zu meistern.“

Murdoch wirkte selbst als herausragende Künstlerin, deren Romane die menschliche Seele in ihrer ganzen Vielschichtigkeit, Abgründigkeit und Inkonsequenz ausleuchten. Ihre ausschließlich männlichen Hauptfiguren sind zumeist Käuze und Sonderlinge, Besessene, die der Welt ihren Willen aufzwingen wollen.

Hier entfaltet sie die ganze Widersprüchlichkeit der menschlichen Seele, die seitens der Philosophie stets unterschätzt oder heruntergespielt wurde. Zudem entwickelt sie ein außerordentliches Gespür für die sinnliche Einflussmacht der Außenwelt. Wie ihr Biograf Peter Conradi betont, ist es Murdochs Vermächtnis, auch mit ihrem Romanwerk gegen den blinden, übersteigerten Rationalismus der Epoche anzustehen.

Angesichts akuter Problemlagen und Konfliktherde gewinnt Murdochs Stimme allerhöchste Bedeutung. Mehr denn je benötigen wir gute Lösungen durch ein sorgfältiges Gesamtbild der Situation. Das Bemühen um einen aufgeschlossenen Blick, in dem die Belange aller Betroffenen gesehen werden, sowie die damit verbundenen Akte der Selbstrelativierung und -beschränkung sind heute unabdingbarer denn je.

Heidemarie Bennent-Vahle

Literaturhinweise:

Iris Murdoch: Die Souveränität des Guten. Berlin 2023

Clare Mac Cumhaill, Rachael Wiseman: The Quartet. Wie vier Frauen die Philosophie zurück ins Leben brachten. München 2022

Peter J. Conradi: Iris Murdoch. Ein Leben. Wien-Frankfurt/Main 2002

Unsere Artikel “Basiswissen Ethik” im Überblick

 

Foto: Jo Magrean

Dr. Heidemarie Bennent-Vahle, Philosophin und Logotherapeutin, betreibt eine Philosophische Praxis in Henri-Chapelle/Belgien. Sie ist Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der IGPP (Internationale Gesellschaft für Philosophische Praxis) und Mitherausgeberin des Jahrbuchs. Sie ist Mitglied des BVPP (Berufsverband Philosophische Praxis), wo sie u. a. auch ausbildend tätig ist.

Neuere Buchveröffentlichungen: “Weltverflochtenheit, Verletzlichkeit und Humor: Ethisch-anthropologische Überlegungen zur Philosophischen Praxis mit Helmuth Plessner”, Nomos 2022 sowie “Besonnenheit – Eine politische Tugend. Zur ethischen Relevanz des Fühlens”, Verlag Karl Alber 2020.

 

 

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