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„Die Treppe im Teich“

Jo Magrean
Jo Magrean

Philosophische Kolumne

Dieser einigermaßen profane Hinweis mit alliterativem Sound riss mich abrupt aus müden Lektüren und riss mich hin und fort. Vor meinem inneren Auge sah ich sie, diese baufällige, morsche Treppe, ich sah sie lichtvoll draußen in der Frühlingssonne glänzen, eine generöse Augenweide, der ich mich in meiner dumpfen, schattigen Büchergruft auf ungehörige Weise entzogen hatte.

Nach den ausgebleichten oberen Stiegen, die noch aus dem Wasser ragten, ging es über eine zunehmend glitschige Stufenleiter hinab in immer trübere Regionen, hinein in eine kühle, undurchsichtige Unterwelt voller winzig-wimmelnder Teilchen und Lebewesen. Diese Treppe — so schien es mir — war ein Symbol für vieles.

Zuerst dachte ich über die poetische Wirkung simpler Wortkonstellationen nach, welche einen Bewusstseinsstrom imaginärer Wahrnehmungen auszulösen vermochten, eine bilderstarke Gedankenflut, die sich im Inneren nur darum so verschwenderisch entfalten konnte, weil wir immer schon bezogen auf eine konkrete, vielgestaltige, unermesslich bewegliche Wahrnehmungswelt außer uns leben.

Unvermittelt assoziierten sich dem schlichten Gleichklang zweier Konsonanten Gefühle höherer Bewandtnis. Und deutlich spürte ich: Sprache ist weitaus mehr als ein Haufen arbiträrer Zeichen zur Erfassung und Einordnung realer Entitäten in verallgemeinernde Klassen. Sie bietet zahllose verbindende Elemente und vor allem birgt sie die unerschöpfliche poetische Dimension der Klang- und Bildfiguren, mit denen wir die Grenzen des Sagbaren durchbrechen.

Auch dachte ich an die Unergründlichkeit der menschlichen Natur, an die Untiefen des Unterbewussten, in die ich zwar behutsam step by step hinabsteigen kann, um in die höchst persönlichen Prozesse meines Bewusstseins einzutauchen, doch zugleich wurde mir klar, dass jegliche Übereinstimmung mit den Denkwegen und Empfindungsweisen anderer sich in diesen dunstverhüllten Flüssigkeiten abschließender Verifikation entziehen muss.

Was ich aufgreife und dingfest zu machen glaube, werde ich kein zweites Mal wieder genauso erfahren. Mag ich einen psychischen Zustand auch bewusstseinshell erkunden, so verändere ich ihn bereits und trage die Erinnerung daran in zukünftige vergleichbare Erlebnisse. Das erkennende Selbstbewusstsein, in dem ich mir zu Bewusstsein komme, in dem ich mich als etwas Bestimmtes verstehe, braucht ein erkennendes Ich-Bewusstsein, also etwas, das in mir denkt, von dem ich aber im selben Moment keinerlei klar differenzierte Kenntnis gewinnen kann.

Stets ist ein nach sich selbst fragendes Ich vorauszusetzen, welches – aus verborgenen Tiefen hervorquellend — sein Nachsichselbstfragen niemals restlos vergegenständlichen kann. Jedem weiteren Versuch der Objektivierung entgleitet erneut der eigene reflexive Standort, hinab in ein opakes Unterwasserreich. So lässt mich dieser tiefe Grund, in dem die Treppe geheimnisvoll versinkt, an den „Homo absconditus“ denken — ein von Plessner verwendetes Wort, um die Unmöglichkeit letzter Selbsterkenntnis des Menschen zu bezeichnen.

In der Folge musste ich über die konstitutionelle Unzulänglichkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens nachdenken — keine grundlegende Impotenz, aber eine notorische Inadäquatheit, insofern unser Wissen-Welt-Verhältnis kaum je gradlinig voranschreitet und ohnehin niemals zur Ruhe kommt. Eher mäandert es, keucht atemlos in diese oder jene Richtung, muss unablässig vergangene Irrtümer revidieren und sich mit vorläufig nicht widerlegten Einsichten zufriedengeben.

Schwerlich lässt sich der menschliche Faktor ausmerzen, denn die innere Struktur unserer Begriffsbauten ist von fraglos übernommenen menschlichen Absichten durchherrscht, so dass sich die objektive Wahrheit oder Falschheit einer Aussage nicht ohne weiteres feststellen lässt. Wir angeln im Trüben und dürfen uns glücklich schätzen, wenn nichts von der Wirklichkeit ausgeht, das bedrohlich mit der Art und Weise kollidiert, in der wir uns die Welt eingerichtet haben. Bei der Anbindung unseres Wissens an Fakten laufen wir Gefahr, unaufmerksam und selektiv zu verfahren, so dass jederzeit mit bedenklichen Rückschlägen — hervorschnellend aus bisher unerforschten Seinstiefen — zu rechnen ist.

Schließlich musste ich angesichts der undurchdringlichen Tiefe des Gewässers, welches uns allenfalls über defekte Stiegen zugänglich ist, an einen widersinnigen Tatbestand denken: Da ist zum einen unsere ursprüngliche Du-Gewissheit, welche schon das Kleinkind zu Jauchzern veranlasst, und daneben jene spezifische Blindheit des Menschen, der — eingenommen von seinem eigenen Innenleben — nur selten hinreichend Gespür für die Freuden und Leiden anderer aufzubringen vermag.

William James schreibt: „Man sagt, daß selbst in der Brust des gleichgültigsten Menschen ein junger Dichter früh gestorben ist.“ Früh entschwunden ist wohl vor allem jene Imaginationsbereitschaft, die sich nicht davon abhalten lässt, noch hinter einer derben, ungeschlacht erscheinenden Fassade das ‚goldene Kämmerlein‘ zu suchen, in welchem die andere Person — verborgen vor den Augen der Welt — ihr eigenes reiches Empfindungsleben führt. Oft schon habe ich erlebt, dass in halbschattigen oder überglänzten Atmosphären das Ungeschlachte zum Erliegen kam.

Im schummrigen Winkel eines Konzertsaals offenbart ein vermeintlich ungehobelter Kerl feinsinnige Freude und unverstellte Hingabe; bei einem Streifzug durch die Natur, den ich vielleicht nur unwillig auf mich nahm, vernehme ich im Strom unerwarteter Lebendigkeit die innere Bedeutsamkeit einer Person, der ich zuvor kaum je Beachtung schenkte.

Hier wie dort wird augenfällig, wie sehr wir geneigt sind, — geblendet vom Reflex der Oberfläche — im anderen Menschen, selbst in uns Nahestehenden, nur noch das Gegenständliche zu erblicken, so dass wir uns nicht mehr bequemen, auch nur einen Schritt weiter hinabzusteigen, um das beseelte Wesen aufzuspüren.

Ich vermute, dass der Hinweis auf die beschädigte, baufällige Treppe im Teich nur deshalb eine solche Flut halbfertiger Gedanken in mir wachrufen konnte, weil aktuell das Getöse praktischer Zwänge erheblich nachgelassen hat. Nur deshalb konnte ich mir erlauben, gedankenverloren auf dem Sofa zu verharren und meine geistigen Spannkräfte derart zu verschwenden und sie eben nicht darauf zu verwenden, umgehend Reparaturmöglichkeiten abzuchecken, nach geöffneten Baumärkten zu fahnden und zielstrebig loszulegen.

Auch wenn ich zugegebenermaßen ohnehin in der geschäftigen Tageswelt eher als ein nutzloser Bücherwurm gelte, so wage ich mich doch mit der Frage hervor, ob die aktuell gefährlich schwankende „Treppe im Teich“ nicht als einen Wink zu verstehen wäre, mit mehr Emphase über das Tiefgründige und Maßgebliche einer im Unsichtbaren regierenden Wirklichkeit nachzusinnen. Lenkt sie uns nicht auf Wesentliches hin?

Eine Frühlingsbrise lässt soeben Kirschblüten wie Schnee herabrieseln und zeigt das Verwehen der gestern noch prallen Blütenstände an. Hinabsteigen und Dahinschwinden, das Glück der Aufmerksamkeit und des Miteinandersprechens, vielleicht über die Instandsetzung der Treppe, vielleicht über den Honigeifer der Bienen oder die Verwendung der Kirschernte im Sommer, womöglich diesmal sogar über das unaufhaltsame Vergehen selbst, über die unleugbare Vulnerabilität und Hinfälligkeit unserer menschlichen Existenz. Die ereignisarme Zeit der Quarantäne ist keineswegs nutzlose Leere, vielmehr vermag sie Einblicke in die subkutane, letztlich nie vollends zu ergründende Verwobenheit aller Phänomene des Wirklichen zu gewähren.

Hervorgegangen aus dem Urquell eines — dem Teich vergleichbaren — wandlungsfähigen Universums leben wir in verschwommenem Helldunkel, einander ähnlicher und voneinander abhängiger als gedacht, und sollten dennoch keine Dutzendseelen sein. Ich wünsche mir den Mut, ausdauernd tief am Grund zu tauchen, um noch rechtzeitig zu erkennen, was unser gigantisches Biotop davor bewahren kann, unwiederbringlich aus der Balance zu geraten. Coronakrise und Klimawandel verweisen aufeinander, demnach sollten der Schutz aller Älteren und Gefährdeten und die Sicherung der Zukunft junger Menschen und kommender Generationen keinesfalls gegeneinander ausgespielt werden.

Die dämmrige Tiefe des Teiches gibt zu bedenken, dass die Erforschung der mechanischen Seite physischen Lebens den Beistand idealistisch-ethischer Bewusstseinsregungen benötigt. Erst wenn erfahrungsgetränkte wissenschaftlich-technische Lösungskonzepte und unermüdliche moralisch-spirituelle Erneuerung zusammengehen, lassen wir das fehlerhafte, vermeintlich transparente „rationalistische Blockuniversum“ (James) hinter uns. Die sich besinnende Verneinung der Möglichkeit eines statisch-endgültigen Wissens überwindet mit der Verstandeslähmung, wie ich meine, auch die Herzensstumpfheit.

Heidemarie Bennent-Vahle, 28. April 2020

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