Ein Bericht aus der Elfenbeinküste
Selten wird über diese Seite der Armut berichtet: In Ländern ohne ein funktionierendes Gesundheitssystem erfahren psychisch Kranke keine adäquate Hilfe. Einige müssen in „Gebetslagern“ ihr Dasein fristen, wo sie Willkür und Misshandlung erleben. Der Psychiater Dr. Michael Huppertz hilft mit seiner Stiftung und berichtet von einer Reise.
Wir fahren zu einem „Gebetscamp“ in der Nähe von Bouaké, im Zentrum der Elfenbeinküste. Wir, das sind die Mitarbeiter:innen von Samentacom, einem ivorischen sozialpsychiatrischen Projekt, und Vertreter:innen der Mindful Change Foundation, die diese Arbeit unterstützen. (1) Das Dorf besteht aus den üblichen strohgedeckten Rundhütten, aber es hat eine besondere Funktion: Es beherbergt körperlich und psychisch kranke Menschen.
Wir wollen einige der psychisch Kranken besuchen. Sie befinden sich draußen, drei von ihnensind an Bäumen angekettet. Ein vierter liegt unter einem Baum auf einer Decke, sein Vater steht daneben und wirkt verzweifelt. Der junge Mann auf dem Boden nimmt keinen Kontakt zu uns auf, er kriecht herum, unter die Decke und wieder hervor, macht einen hochgradig verwirrten Eindruck.
Wir gehen zu einem anderen jungen Mann. Er steht an einem Baum, an dem sein Fuß mit einer Eisenkette gefesselt ist. Er will mit uns reden, gestikuliert. Wir verstehen nicht alles, aber er wirkt erregt, redet ohne Punkt und Komma. Wir kennen ihn bereits. Ein Jahr zuvor hatten wir das Camp schon einmal besucht. Er befand sich am gleichen Baum im gleichen Zustand.
Ein dritter Patient ist ebenfalls angekettet. Er ist völlig verängstigt, die Augen sind aufgerissen. Er spricht nicht. Wir erfahren, dass er erst am Vortag gebracht wurde. Er sei Lehrer, habe sich aber plötzlich verändert.
Gebetslager beherbergen psychisch Kranke
In der Elfenbeinküste gibt es etwa 2.000 sogenannte Gebetslager für psychisch Kranke. Sie werden von beauftragten oder selbst ernannten geistlichen Autoritäten geleitet und im Sinne evangelikaler Kirchen, des Islams oder traditioneller Religionen geführt. Traditionelle Einflüsse spielen auch in den monotheistisch ausgerichteten Camps eine Rolle.
So werden psychische Krankheiten als Besessenheit in Folge einer spirituellen Verirrung, eines Tabubruchs oder eines Fehlverhaltens der Ahnen interpretiert. Die „Behandlung“ erfolgt mit Gebeten, Zwangsfasten und Entzug von Wasser, erzwungenem Erbrechen, manchmal auch mit schweren Misshandlungen in der Hoffnung, dass die bösen Geister den Körper der Patient:innen verlassen.
Die meisten Berichte über die Zustände in den Camps stammen von Nichtregierungsorganisationen, Enthüllungsjournalisten und Menschenrechtsorganisationen. (3) Die Lager beherbergen eine unterschiedliche Anzahl psychisch Kranker, von einigen wenigen bis zu mehr als 100, von denen viele – oft jahrelang – an Bäume im Freien angekettet werden.
Die Menschen haben keinen Schutz vor Tieren, Hitze, Regengüssen oder anderen Menschen und keine Beschäftigung. Die Lager sind rechtsfreie Räume, auch wenn dies gegen nationale Gesetze verstößt. Solche Gebetslager gibt es auch außerhalb von Afrika. Sie haben in Regionen, in denen es kein Gesundheitssystem für alle gibt, eine Asylfunktion.
Die verborgenen Leiden der Armut
Etwa die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Ländern, in denen nur ein einziger Psychiater für 200.000 oder mehr Menschen zur Verfügung steht. In Ländern mit extrem niedrigem Einkommen („Low Income Countries“, LIC) gibt es weniger als eine Fachkraft für psychische Gesundheit pro 100.000 Einwohner, in Ländern mit hohem Einkommen 60 (2).
Während 70 Prozent der Menschen mit Psychosen in Ländern mit hohem Einkommen behandelt werden, ist dies in einkommensschwachen Ländern nur bei 12 Prozent der Fall und wenn, dann haben vor allem die Wohlhabenden in Großstädten diese Möglichkeit Die Low Income Countries geben nur ein Prozent ihres Gesundheitsbudgets für die geistige Gesundheit aus, manche Länder aus dieser Gruppe gar nichts. Nur drei Prozent der LIC verfügen über einen Plan für eine psychiatrische Versorgung, der auch umgesetzt wird.
In vielen Entwicklungsländern gibt es eine generelle Armut der Gesundheitsfürsorge für den nicht-privilegierten Teil der Bevölkerung. Schwere psychische Erkrankungen (Schizophrenie, bipolare Erkrankungen, schwere Depressionen) und Epilepsie werden gar nicht als Aufgabe der Medizin angesehen. Sie wirken gleichermaßen rätselhaft, bedrohlich, unheilbar und führen beide zu Ausgrenzungen, von denen im Falle der Epilepsie viele Kinder betroffen sind.
Die Patient:innen leben in den Städten auf den Straßen, werden oft in den Familien versteckt und eingesperrt, oder sie befinden sich in den Gebetscamps. Viele Betroffene sind zuvor auch zu traditionellen Heilern gebracht worden, die aber im Falle von schweren psychischen Erkrankungen und Epilepsie wenig ausrichten können.
Keine Versorgung, keine Rechte
Die Patient:innen spielen nicht nur im medizinischen Diskurs und der Gesundheitsversorgung vieler Entwicklungsländer so gut wie keine Rolle, auch ihre Rechte als Bürger:innen und Menschen sind kein Thema.
Sieht man von den spirituellen Bemühungen der Heiler und Gebetscamps und der persönlichen Fürsorge der Angehörigen und Dorfgemeinschaften ab, so sind die Betroffenen auch aus der gesellschaftlichen und politischen Öffentlichkeit ihrer Länder verschwunden.
Sie werden auch physisch aus der Öffentlichkeit entfernt, aus den Dorfgemeinschaften, aus der Arbeitswelt, aus dem Familienleben. Sie existieren aber auch nur schemenhaft in der internationalen Öffentlichkeit, wenn man das immense Ausmaß des Problems bedenkt. Das macht es so schwer, ihnen zu helfen.
Die Betroffenen (etwa fünf Prozent der Bevölkerung) und ihre Angehörigen sind so zahlreich, dass man von einer der großen verheimlichten und vergessenen sozialen und menschenrechtlichen Katastrophen unserer Zeit sprechen kann.
Mehr finanzielle Ressourcen für psychische Erkrankungen
Gerade in afrikanischen Kulturen sind Solidarität und Hilfsbereitschaft vor Ort tief verankert . Die Großfamilien und Dorfgemeinschaften bieten Chancen für Toleranz und Integration. Diese Reichtümer sind Grund genug für Optimismus und Engagement.
Überzeugende und bezahlbare internationale Modelle und Programme zur psychiatrischen Versorgung existieren (3). Sie empfehlen eine gemeindenahe, ambulante Versorgung, die möglichst in den zahlreichen lokalen Gesundheitszentren stattfinden sollte. Stationäre Behandlungen sind nur in Ausnahmefällen notwendig, ansonsten viel zu teuer und für die Patient:innen nicht erreichbar.
Zudem wissen wir aus der Geschichte und der Gegenwart der Psychiatrie, dass psychiatrische Krankenhäuser für Stigmatisierungen und Verletzungen der Rechte von Patient:innen anfällig sind, zumal wenn sie materiell und personell nur schlecht ausgestattet werden können. Von der WHO werden daher für stationäre Behandlungen psychiatrischen Abteilungen in Allgemeinkrankenhäuser empfohlen
Die Stiftung Mindful Change Foundation fördert in erster Linie Fortbildungen für alle Gesundheitsmitarbeiter und lokale Helfer über psychische epileptische Erkrankungen. Sie unterstützt außerdem Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit sowie die Beschaffung von Medikamenten, Fahrzeugen, Handys und Laptops. Der Zustand der Straßen und der Wege in weiten Teilen des Landes sind ebenso ein Problem wie die fehlende Elektrizität.
Was fehlt, sind öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema psychischer Krankheiten, mehr finanzielle Ressourcen, auch seitens des Staates, und eine umfassende und entschlossene internationale Zusammenarbeit.
Michael Huppertz, Dr. phil. Dipl. Soz., Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Studium der Soziologie, Philosophie und Medizin. 2018 Gründung der Mindful Change Foundation (MCF) in Darmstadt, einer gemeinnützigen Organisation, die sozialpsychiatrische Modellprojekte in armen Ländern unterstützt. www.mihuppertz.de, www.mindful-change.org
Quellen
(2) Koua AM, Djo Bi Djo F, N’Guessan Kouadio R, Coulibaly Z, Sreu E, Konandri ED, Koua JV, Huppertz S, Heetderks G, Huppertz M. Survey of non-conventional mental health care facilities in Côte d’Ivoire: first stage. In: International Journal of Mental Health Systems. 2021; 15(83). Available from: https://doi.org/10.1186/s13033-021-00506-7
(3) Diese und die folgenden Zahlen s. WHO (2022) World mental health report: transforming mental health for all. https://archive.hshsl.umaryland.edu/bitstream/handle/10713/20295/WHO%20Report%202022.pdf?sequence=1&isAllowed=y