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Erfahrungen von Andreas Weber

Wir schützen die Natur, wenn wir uns mit ihr verbunden fühlen. Wie aber lässt sich diese Verbundenheit erfahren und wie in Worte fassen? Der Biologe Dr. Andreas Weber erzählt, wie er an einem milden September-Tag die Welt aus der Sicht eines Sees wahrnimmt – jenseits der normalen Alltagserfahrung.

Ich bin zum See gefahren, bin an den dunkelgrünen und blaugrünen und von der Sonne hell angeleuchteten Bäumen des Waldes vorbeigefahren, dahinter die schwarzen Wolken, und es haben mich ein paar Regentropfen getroffen. Dann bin ich in den See gegangen, der noch ganz warm war von der letzten Berührung. Ich habe mich von dem warmen und darunter ein bisschen kühlen Wasser umfangen und streicheln lassen.

Winzige Samenspelzen trieben auf der glatten Fläche, die Wolken tintenblau in verschiedenen Mischungen. Manchmal sprang ein Fisch aus der Tiefe hoch und hopste über das Wasser und verschwand wieder darin. Und auf der Westseite unter den umgestürzten Weiden sind die Seerosen erblüht, richtige Seerosen.

Der See war voll von sich selbst und auf seiner Oberfläche haben sich die Rosen treiben lassen, so wie ich. Und dann kippt die Perspektive und alles verwandelt sich, und ich blicke nicht mehr aus meinen Augen, sondern zerrinne in jenem stillen Auge des Sees, mit dem sich die Landschaft selbst beschaut. Ich nehme die Welt als See war. Darum also ist die Natur so essentiell. Sie wartet darauf, dass ich mit ihren Augen auf mich selbst schaue.

Das ist die Umkehrung jener Erfahrung des zornigen jungen Mannes aus Griechenland, der sich frustriert über eine Wasserfläche beugte und dort allein sein Gesicht erblickte, von dem er sich nicht mehr losreißen konnte, so dass die Welt ganz um ihn herum verschwand. Dieser Mann hieß Narziss, wir wissen es, und seine vergebliche Sucht nach sich selbst ist die Krankheit unserer Zivilisation. Eine ganze Epoche leidet an ihr, und jeder einzelne.

Der Spiegel des Narziss wird in seinem Blick zu einem schwarzen Loch, in das die ganze Welt bodenlos stürzt ohne Unterlass, und je mehr hineinfällt, desto größer und mächtiger wird es.

Die Welt aber ist nicht nur Bild, sondern vor allem Berührung. Die Welt ist Haut, die sich mit meiner trifft, die weiche Haut des frischen Laubes, die resignierte Haut der fallenden Blätter, die körnige Haut der alten Steine, die sich über die Sanfheit meiner Fühlungnahme freuen, die Haut des Sees auch, die sich so leicht durchdringen lässt, auf dass er mich ganz umschließe. Deine Haut darin als Echo.

Das Glück findet mich

Der stille kleine Teufelssee empfängt mich und heißt mich willkommen. „Sein ist Wahrgenommensein“, sagte der Philosoph. Das Wasser spürt mich und ich spüre das Wasser und die Welt spürt sich selbst. Und geht es nicht darum? Wissender Zeuge sein, wie die Welt sich spürt?

Und dieser wissende Zeuge lacht vor Glück. Das Lachen der drolligen Japanerin mit der Schwimmbrille, als die vier Enten nah am Ufer bei der Seerosenmatte auf sie zupaddeln. Das Lachen bei der Begrüßung einer geliebten Person. Das Lachen des Säuglings, der vor Freude kräht und nicht über einen gelungenen Scherz. All das zeichnet die emotionale Nulllinie.

Lachen ist ein Organ des Glücks. Nicht des „Humors“. Die bekannten Aufsätze gelehrter Männer zum Thema, die Lachen als eine Reaktion auf Humor werten, und dann zu verstehen versuchen, was das denn sei, Humor, sind zu revidieren. Das Lachen über den Scherz ist eine Spielart von Glück.

Glück ist die Erfahrung, dass das Schöne von selbst die Kraft hat zu sein. Dass es sich durchsetzt. Dass es mich findet, so sehr ich mich auch verstecke. Glück ist eine greifbare Essenz im Raum. Es ist kühl und grün und transparent und streichelt und trägt mich, solange ich dagegen nichts unternehme. Ich muss nichts tun als zu atmen.

Neubeginn mit Hagebutten

Heute ein Tag mit jenem spätsommerlichen Frieden in der Luft, für den es keinen Ausdruck gibt. Milde, diesiges Licht, noch die ganze Zärtlichkeit des Sommers, aber ohne jedes tiefere Verlangen, ohne Druck, ohne Zwang, ohne den Appell, etwas besonderes daraus zu machen.

Ich sehe auf die Dutzende von Hagebutten, die an den schlanken, geradezu in den Himmel geschossenen Trieben der Rose hängen. Ich öffne das Fenster, um ihr noch näher zu sein, um zu hören, zu sehen, zu riechen, zu atmen.

Ein Rausch, wie sich das Jahr neigt, wie all die alten Gefühle wiederkehren. Wer wären wir, wenn nicht auf den Herbst der Sommer folgte? Wenn nicht alles, bei aller Neuheit, immer das Gleiche wäre?

Die Botanikerin und Genetikerin Florianne Koechlin erzählt, dass die Bäume durch ihre Wurzeln ein einziges Mega-Nervensystem sind. Sie sind mit über die Mykorrhiza mit den Pilzen verbunden, sie stehen mit den Bakterien in Wechselwirkung, nicht anders als ich über meinen Verdauungstrakt. Die Frage, wessen Tod wem in die Schuhe zu schieben ist, ist in einer Landschaft genauso akademisch wie die, ob die kranke Darmflora zu meinem Verfall führt oder mein Leiden die Bakterien in mir schwächt.

Es ist eine lebende Landschaft, die unterschwellig, unsichtbar so vital miteinander verbunden ist, dass man von einem Körper sprechen muss. Und nicht anders ist ja auch das Bild, das sich mir bietet: Ich sehe die letzten kleinen Hagebutten, orangerot an den federnden Trieben, ich sehe die Feuerlocken der Goldrute, ich sehe die ersten gelben Sprenkel der Birkenblätter, ich sehe die weißen Mehlbeeren wie winzige Imitate des Vollmondes, ich sehe die Feuerfrüchte des Pfaffenhütchens, alle miteinander, umeinander gebettet, ineinander verkettet.

Jeder Garten ist der Versuch, diese Welt durch eine Pforte zu betreten. Der Garten ist die Bitte an die Natur, uns in ihr Rhizom zu integrieren, mehr nicht.

Selbste ohne Selbst

Und das gilt auch für uns, wir müssen auch diese Integration ständig leisten und werden ständig an ihr scheitern, und gerade das vermutlich ist Lebendigsein. Wir sind Individuen und wir sind es nicht. Wir sind jeder ein ich, aber nur dadurch, dass es dieses Wir gibt. Wir sind zugleich eine wimmelnde Masse von Bakterien und Menschenzellen, und wir sind dieser schwere Körper, ein letztes Mal sonnenbeglückt im Mittendaruntersein, leicht im Duft und schwer im Blut. Selbste ohne Selbst.

Wenn wir vom Sommer Abschied nehmen, dann von etwas, das niemals uns gehört hat, etwas, von dem wir nur träumten, und dieser Traum war seine größte Wirklichkeit.

Das Problem, das denkerische Problem, besteht nun darin, dass ich nicht mehr glauben kann, dass unsere Humanität so sicher ist, dass sie etwas ist, das in sich ruht, das man etwas finden kann, was richtig und human und gut und moralisch ist. Und schon gar nicht kann ich mehr glauben, dass diese Ruhe und dieses Heile durch die Natur garantiert wird und dass wir sie darum brauchen.

Ich glaube vielmehr, dass die Humanität ein extrem quecksilbriges Etwas ist. Dass sie keinen sicheren Normalzustand kennt, keine Heimat, wenn man so will. Keine Identität. Die Natur hat darum kein Gesundheitsprogramm für uns. Sie gibt uns nicht wie eine Mutter etwas, was wir dringend brauchen, um ganz zu sein. Nein, sie bestärkt uns in der Möglichkeit, uns beständig zu verwandeln, und zu dem zu machen, was wir nicht sind. Die Natur ist das Prinzip der Geburt in der Form des Ich-als-ein-Anderer.

Die Vogelbeeren als leuchtender Schmuck zwischen den Blättern. In unregelmäßigen Abständen tropft eine schwere Eichel nach der anderen vom Stamm. Zeit, stillgestellt in ihrem vorsichtigen Schritt. Der Klang der Zeit in den Instanzen ihres Vergehens. Unendlichkeit in den Tönen, endlich und fest, in den Farben und Stimmen, wohldefiniert, ein Kräuseln auf einer Tiefe, die unsichtbar bleibt. Ich trainiere in den taubehängten Trampolins der Baldachinspinnen das Springen ins Licht.

Dann wieder Tage im Regen, die Klarheit des Septembers, die gerade entsteht, die Welt wird abgewaschen und gleichmütig zum Trocknen abgestellt.

Jedes Glück ist die Erfahrung eines Potentials. Nicht seiner Einlösung.

Andreas Weber

Florian Büttner

Andreas Weber (Jahrgang 1967) ist Meeresbiologe und promovierter Philosoph. In seinen Büchern, Vorträgen und Workshops erforscht er das eigene Spüren als Zugang zur Innenerfahrung einer lebendigen Wirklichkeit und entwickelt auf dieser Grundlage eine „Erotische Ökologie“. Sein neuestes Buch Indigenialität erschien 2018 bei Nicolai.

 

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Wow! Was für ein Text! Selbst ich, die ich es gewöhnt bin, zu schreiben und als Biogeografin stark mit der Natur verbunden bin und der es im Altweibersommer stets schwer fällt, von diesem Abschied zu nehmen, habe einige Textpassagen mehrfach lesen müssen, um sie zu verstehen. Was uns die Natur zeigt, können wir womöglich nur im Ansatz kapieren und wenn wir uns mit der Natur einlassen, wenn wir in sie wie in einen See eintauchen. Wir befinden uns dann in diesem Kreislauf bzw in der wachsenden Spirale von Werden und Vergehen.

Andreas, herzlichen Dank für diese, von meiner Sicht auf die Welt, eloquenten Beschreibung von SEIN.

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