Interview mit der Familientherapeutin Helle Jensen
Die Psychologin und Familientherapeutin Helle Jensen, die mit Jesper Juul zusammenarbeitet, setzt im Umgang mit Schülern auf Empathie und Beziehung, statt Autorität und Hierarchie. Sie spricht im Interview über die angeborene soziale Kompetenzen von Kindern und ermutigt, sich selbst zu spüren und Kinder gut zu begleiten.
Das Interview führte Birgit Stratmann
Frage: Sie stehen gemeinsam mit Ihrem Kollegen Jesper Juul für einen Paradigmenwechsel in der Erziehung: weg vom hierarchisch geprägten, aber auch vom antiautoritären Erziehungsstil. Wie sieht eine zeitgemäße, fruchtbare Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern aus?
Jensen: Die Entwicklungspsychologie sagt uns: Kinder kommen mit sozialen Fähigkeiten auf die Welt. Früher dachte man, dass die Kinder wie kleine Wilde wären. Mit Bestrafen und Disziplin wollte man ihren egozentrischen und narzisstischen Tendenzen entgegenwirken.
Heute wissen wir, dass das nicht stimmt. Wir können von Anfang an eine respektvolle Beziehung aufbauen und die Kinder unterstützen. Gleichzeitig übernehmen wir Verantwortung. Kinder brauchen Richtlinien und müssen unsere Grenzen spüren, aber wir bleiben offen für den Dialog.
Für Sie steht also die Beziehung im Mittelpunkt, und sie wollen die Beziehungskompetenz stärken. Was genau ist das?
Jensen: Beziehungskompetenz definieren wir als die Fähigkeit, das Kind “zu sehen” und das eigene Verhalten darauf abzustimmen, ohne zugleich die Führung abzugeben. Das heißt, wir sind mit uns selbst in Beziehung und begegnen den Kindern mit Empathie. Wenn ein Kind auffällig ist, geht es eigentlich darum, dass das Kind um seine Integrität kämpft.
Ich habe einmal Supervision mit einer Lehrerin gemacht, die Schwierigkeiten mit einem Kind in der Klasse hatte. Niklas hat permanent „gestört“ und war sehr unruhig. Die Lehrein fühlte sich unter Druck, müde und entfernte sich immer mehr von dem Kind – bis Niklas irgendwann einfach den Unterricht verließ.
In der Supervision merkte sie, dass sie nicht in der Lage gewesen war, mit ihm in Beziehung zu gehen. Sie konnte ihr Mitgefühl nicht zeigen, sondern hat sich verschlossen, um nicht schwach zu erscheinen.
Wer in Beziehung sein will, muss sich selbst gut kennen. Wie geht das in einer Gesellschaft, in der Menschen stark nach außen gerichtet sind?
Jensen: Das ist genau das Problem! Als Jesper Juul und ich angefangen haben, zur Beziehungskompetenz zu arbeiten, gingen wir vor allem über den Dialog. Wenn du das, was in dir ist, im Gespräch ausdrücken kannst, bekommst du mehr Klarheit.
Ich selbst habe dann angefangen zu meditieren, auch Meditation ist eine gute Möglichkeit, in Beziehung zu sein. Hier geht es vor allem darum, dass wir Kontakt zu unserer Atmung, zu Körper und Herz aufnehmen. Das haben wir in der Schule ausprobiert: mit Lehrkräften und mit Kindern.
Welche Erfahrungen haben Sie in Schulen damit gemacht?
Jensen: Unsere ersten Projekte mit drei Fünften-Klassen liegen zwölf Jahre zurück und wurden von der pädagogischen Universität begleitet: eine Fortbildungsreihe über ein Jahr mit den Lehrerinnen und Lehrern. Diese haben danach das, was sie gelernt haben, den Kindern beigebracht.
Die Atmosphäre im Klassenraum hat sich dadurch stark verändert. Die Kinder sind sanfter und mitfühlender miteinander umgegangen und konnten sich klarer über die eigene Befindlichkeit ausdrücken.
Entwicklung läuft über Beziehung
Nach dem ersten Versuch mit einer kleinen Anzahl von Teilnehmern haben wir ein Entwicklungsprojekt in der Lehrerausbildung in Dänemark gestartet. Über vier Jahre lang haben wir zwei Klassen in der Lehrerausbildung mit unserem Ansatz der Beziehungskompetenz vertraut gemacht.
Die Ergebnisse waren ermutigend. Manche Studenten, die jetzt fertig sind, sagten, sie wüssten nicht, wie sie den Lehrerberuf ohne diese innere Kompetenzen ausüben könnten, besonders die Qualitäten von Präsenz und Empathie. Es gab auch Skepsis. Einige fragten sich: Warum soll ich auf mich achten, ich will doch anderen Mathe beibringen? Erst als sie vor der Klasse standen, merkten sie, wie notwendig diese Fähigkeiten sind.
Die Entwicklungspsychologie zeigt uns: Entwicklung geht über Beziehung. Auch für die Vermittlung fachlicher Kompetenzen, sei es Mathe oder Dänisch-Unterricht, brauchen wir eine gute Beziehung zwischen Lehrkräften und Schülern.
Sie werben für eine andere Art von Schule – was schwebt Ihnen vor?
Jensen: Die Regelschulen in Dänemark und Deutschland sind recht unterschiedlich. In Skandinavien sind wir schon etwas weiter. In Deutschland, wo ich viel gearbeitet habe, brauchen wir den Schritt vom Gehorsam zur Verantwortung. Hierzulande sind die hierarchischen Beziehungen immer noch vorherrschend: wie man Kinder sieht und mit ihnen umgeht. Zwar wollen viele deutsche Lehrerinnen und Lehrer keinen Gehorsam, aber es ist nicht leicht, aus dem autoritären System auszubrechen.
Das alte System brachte unnötige Verletzungen auf Seiten von Kindern und Erwachsenen. Der Respekt fehlte. Wir wollen das Klima in der Schule so verbessern, dass Lehrer und Kinder die Möglichkeit haben, sich zu entwickeln. Denn auch wir können von Kindern lernen.
Besseres Klima im Klassenraum
Ich habe viel mit Lehrern gearbeitet, die unter Druck sind. Die Frage ist: Wie finden sie Sicherheit in sich selbst, so dass sie mit persönlicher Autorität vor die Klasse treten. Das ist ein himmelweiter Unterschied zu einer Autorität, die aus einer Rolle kommt. Nur aus persönlicher Autorität und Integrität kann Respekt seitens der Kinder entstehen. So kommt mehr Menschlichkeit in die Klasse, und das Klima ist weniger von Angst geprägt.
In Deutschland denken die Lehrer oft: Wenn ich locker bin und mehr Menschlichkeit zeige, komme ich mit dem Stoff nicht durch. Wir wollen ihnen neue Werkzeuge, so dass sie die alten Muster von Gehorsam und Autorität langsam ablegen können.
Was wären diese neuen Werkzeuge?
Jensen: Vor allem Dialog und Beziehung. Letztlich geht es um Empathie – das ist ja das, was in unserer Gesellschaft am meisten fehlt. Aber diese können wir nur entwickeln, wenn wir bei uns selbst anfangen. Sind wir uns selbst vertraut, dann begegnen wir auch anderen mitfühlend.
Sich selbst spüren und Kinder gut begleiten
Ich möchte gern Lehrkräften Methoden anbieten, die ihnen helfen, sich selbst zu spüren und die Kinder angemessen zu begleiten. Dann kann eine Atmosphäre entstehen, in der sich die Kinder angenommen fühlen und Ruhe einkehrt.
Es geht in kleinen Schritten mit kleinen Übungen, etwa Achtsamkeitspausen im Mathe-Unterricht. In den Schulen heute gibt es viele Probleme, und das Lehrpersonal ist ratlos, wie damit umzugehen ist. Sie suchen händeringend nach Unterstützung.
In Ihrem Buch „Hellwach und ganz bei sich – Empathie und Achtsamkeit in der Schule“ stellen Sie zahlreiche Übungen vor. Können Sie Beispiele nennen?
Jensen: Eine gute Sache ist zum Beispiel der Aufmerksamkeitszirkel. Die Schülerinnen und Schüler werden angehalten innezuhalten und zu prüfen, wie hoch oder niedrig ihre Aufmerksamkeit ist.
Weiter gibt es die Aufzugübung, eine Atemübung: Man stellt sich vor, dass es eine kleine Kugel im Körper gibt, die zwischen Kopf und Bauch hin- und herrollt. Wenn du einatmest, rollt sie herunter, wenn du ausatmest, bewegt sie sich wieder nach oben.
Manchmal sind auch Methoden gut, die die Kinder mehr in Bewegung bringen, etwa dass sie auf ihren Stuhl steigen und wieder zurück. Sie machen das z.B. für eine Minute, so oft sie können. Dann ist richtig Lärm im Klassenzimmer, alle sind aktiv. Danach sollen sie in einer Minute nur einmal auf den Stuhl steigen und zurück, die Bewegungen sind dann verlangsamt.So lernen die Kinder, von einem hohen Aktivitätslevel herunterzukommen und das autonome Nervensystem zu beruhigen.
Übrigens ist auch ein Bodyscan eine wunderbare Sache, die Kinder lieben es, mit ihrer Aufmerksamkeit durch den Körper zu wandern, besonders im Liegen. Wir haben es neulich mit Achtklässlern gemacht, sie finden das klasse.
Wie reagieren die Lehrer auf derlei Übungen?
Jensen: Diejenigen, die in unsere Kurse kommen, sind offen. Aber es gibt auch Skepsis und Vorbehalte. Daher ist es wichtig, alles freiwillig anzubieten und keinen Druck zu erzeugen. Es gab einen Lehrer, der explizit sagte, dass er so etwas nicht machen will. Und wir haben ihn darin bestärkt, seinem Bedürfnis zu folgen. Menschen sind verschieden, nicht für jeden sind Meditation und Achtsamkeit das Richtige. Es gibt für Menschen gute Gründe, nicht nach innen zu schauen.
Wie begegnen wir den Gefühlen unseres Kindes?
Empathie kann zweischneidig sein: Besteht nicht die Gefahr, dass Kinder noch mehr beschützt werden, Stichwort Helikopter-Eltern?
Jensen: In Dänemark haben wir das Problem auch, wir nennen es Curling-Eltern. Es ist ein großes Thema. Die Eltern wollen gute Eltern sein, und oft verlieren sie dann ihre Klarheit. Es gibt immer zwei wesentliche Aspekte: die Empathie sich selbst und dem Kind gegenüber und die Klarheit.
Wenn ein Kind dich nicht deutlich sehen kann und nicht weiß, was du willst oder was du nicht willst, ist es schwierig. Sich zu zeigen ist sehr wichtig, und damit haben viele Eltern Schwierigkeiten. Bei Lehrern ist das einfacher.
Aber Mütter und Väter halten Konflikte mit ihren Kindern nicht aus, sie fühlen sich dann schlecht. Konflikte sind aber in der Erziehung unvermeidbar, und wir sollten zu Hause lernen, mit unterschiedlichen Meinungen klarzukommen. Das ist genauso wichtig wie Fürsorge.
Das Kind muss lernen: Wie ist es, wenn ich meinen Willen nicht bekomme? Dann ist es vielleicht wütend oder traurig, und diese Gefühle sind okay, sie sind normal. Aber wir müssen die Gefühle im Kind sehen, ohne ihm aber die Macht zu geben und den Wünschen nachzugeben. nur um einen Konflikt zu vermeiden.
Wir brauchen also Empathie, aber auch Klarheit, um den Kindern Grenzen zu aufzuzeigen. Die Crux liegt darin, in der Klarheit die Empathie beizubehalten, ohne umzufallen.
Ein Beispiel aus der Schule: Ein Schüler war auf Klassenfahrt und hatte Heimweh. Die Lehrerin ist zu ihm gegangen, er hat geweint. Sie hat gesagt: „Du bist traurig, das kann ich gut nachvollziehen. Es ist okay. Du kannst hier mit mir sein.“ So konnte er sich wieder beruhigen.
Entscheidend war, dass sie seine Gefühle ernst genommen hat, aber ohne zu sagen: „Okay, wenn es dir nicht besser geht, kannst du wieder nach Hause fahren.“ Das ist für mich Empathie und nicht, Gefühle wegzumachen. Eltern sollten mit ihrem Kind sein, wenn es traurig, wütend oder eifersüchtig ist. Wir können nicht immer fröhlich sein.
Was sehen Sie als Ihre wichtigste Aufgabe in den nächsten Jahren an?
Jensen: Ich möchte mich in der Lehrerausbildung engagieren, also mit angehenden Lehrern, aber auch mit Lehrern, die im Beruf stehen, arbeiten. Mein Ziel ist, dass innere Kompetenzen wie Empathie, Achtsamkeit, Beziehung in der Regelschule implementiert werden – überall dort, wo ich arbeite, also in Dänemark, Deutschland, Schweiz und Österreich. Es soll Alltag in den Schulen werden.
Helle Jensen ist Psychologin und Familientherapeutin. Zusammen mit Jesper Juul hat sie ein Konzept zur Stärkung von Beziehungskompetenz für Lehrer und Erzieher entwickelt. Sie ist Vorsitzende und Mitgegründerin der “Dänischen Gesellschaft zur Förderung der Weisheit bei Kindern” und und leitet das Programm Empathie trainieren. Verantwortlich für das von der Europäischen Union geförderte Programm Hand in Hand, das soziale, emotionale und interkulturelle Komptenzen in der Lehrerausbildung vermittelt.
Autorin mehrerer Bücher, u.a. “Hellwach und ganz bei sich: Achtsamtkeit und Empathie in der Schule”; “Miteinander. Wie Empathie Kinder stark macht”. Beide mit Jesper Juul, dem Schriftsteller Peter Høeg u.a., erschienen im Beltz Verlag 2017